Barbara Staudigl beschreibt, wie Kinder und Jugendliche als Digital Natives die Natur und salesianische Werte im Kloster Benediktbeuern mittels tiergestützter Pädagogik erfahren können.
Soeben ist eine 4. Klasse einer Münchner Schule auf dem Zeltplatz des Klosters Benediktbeuern angekommen und beginnt trotz Regen begeistert mit der Erforschung: „Oh wow, die haben hier sogar Duschen, voll geil!“ „Und Toiletten, aber ohne Wasser, mit Sägespänen, wie soll das denn gehen?“ Schau mal, die Zelte haben voll den schönen Holzboden, Leon, zieh sofort die Schuhe aus, da darf man nur ohne rein!“
Vier geräumige Großraumzelte für eine Schulklasse, zwei mongolische Jurten für die Betreuungspersonen (mit Bett!), eine große Gemeinschaftsjurte und ein Versammlungsplatz rund um eine Feuerstelle, drei Duschen und drei Toiletten bilden den neuen Zeltplatz im Obstgarten des Zentrums für Umwelt und Kultur im Kloster Benediktbeuern. Und auf der Weide direkt neben dem Zeltplatz grasen zehn Alpine Steinschafe. Sie scheinen unbeeindruckt von den aufgeregten Neuankömmlingen. In Kürze dürfen die Kinder zum ersten Mal auf den Weideplatz und erleben, dass die Schafe zutraulich sind und sich kraulen lassen.
Schon lange hatte das Bildungsteam im Zentrum für Umwelt und Kultur von einem Zeltplatz und der Möglichkeit für Schulklassen auf Übernachtungen im Freien geträumt, weil es eine intensivere Qualität von Naturerleben ermöglichen würde: In der Nacht ganz nah an den Tieren und Tierlauten zu sein, in der Dunkelheit die eigenen Sinne zu schärfen – und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, weil man gut aufeinander schauen und achten muss, damit niemand stolpert bei der Nachtwanderung, niemand verloren geht in der Dunkelheit, niemand unnötig Angst hat. Im Frühjahr 2025 ließ er sich nun dank großzügigen Sponsorengeldern1 realisieren.
Analoge Sehnsüchte von Digital Natives
Die Viertklässlerinnen und Viertklässler, die ich begleiten darf, sind 2015 geboren. Sie sind Digital Natives und spielen Computerspiele wie Minecraft, Mario Cart und Fifa. Aber ihre Wünsche und Sehnsüchte für diese Woche sind analog. „Ich möchte die Schafe füttern.“ „Ich möchte bei Sonnenaufgang in die Berge gehen.“ „Ich möchte mit nackten Füßen ins Moor und wissen, wie sich das zwischen den Zehen anfühlt.“ „Ich möchte mit der ganzen Klasse in der Gemeinschaftsjurte schlafen.“ „Ich möchte Stockbrot am Lagerfeuer machen.“
Und das Programm der Umweltwoche holt die Kinder in ihren Träumen und Sehnsüchten ab. Das Zentrum für Umwelt und Kultur hat seit vielen Jahren Erfahrung in Umweltbildung: Es gibt Umweltwochen für Schulklassen, Projekttage zu Umwelt und Nachhaltigkeit und Draußen-Schule für benachbarte Grundschulklassen. Das Team weiß, wie man Lerninhalte des Lehrplans mit Erfahrungen in der Natur verknüpft: Moor, Tümpel, Wiese, Wald – all diese Lebensräume werden erkundet, Flora und Fauna werden sinnlich und kognitiv erlebt, erfahren, kennengelernt, erklärt Doris Linke, verantwortlich für den Bereich Bildung.
Erfahrungen in der renaturierten Moorlandschaft
Seit 1992 setzt sich das ZUK für die Erhaltung und Weiterentwicklung der Moorlandschaft Loisach-Kochelsee-Moore ein und erwirbt selbst Moorflächen, um diese in Kooperation mit Landwirten zu renaturieren. Ich staune, dass meine Viertklässlerinnen und Viertklässler gut informiert sind und wissen, was ein Moor ist. Vor Ort erfahren sie noch, dass es Hoch- und Niedermoore gibt, sich die Hochmoore aus Regenwasser speisen, die Niedermoore aus Grundwasser; und dass ein lebendiges Moor jährlich um nur einen Millimeter wächst.
Um die Moore herum bewirtschaftet das ZUK ca. 800 Hektar Streuwiesen, die nicht gedüngt und nur einmal im Jahr gemäht werden. Auf diese Weise ist eine unglaubliche Artenvielfalt entstanden, bedrohte Vogelarten wie der Kiebitz sind hier ebenso zu finden wie seltene Pflanzen wie Enziane oder Orchideen. Ein besonderer Hingucker für Besucherinnen und Besucher sind die Wasserbüffel im Moor, die zusammen mit Schottischen Hochlandrindern und einer einheimischen Rinderrase grasen. Vor allem für Schulklassen und Familien wurden viele naturnahe Erlebnisformen gebaut, damit die Natur mit allen Sinnen erfahren werden kann.
Erlebnisbiotope
In der Nähe des Klosters wurden unter kräftiger Mithilfe von vielen Volontärinnen und Volontären und Freiwilligen barrierefreie Erlebnisbiotope angelegt: Es gibt Verlandungszonen mit Schilf, binsenreiche Feuchtwiesen, Streuwiesen und Altgrasbereiche. Dazu kommen Kleinstbiotope wie Legsteinhaufen, Insektenhölzer oder Totholzhaufen. In Tümpel und Moorwiesen werden Tümpelsafaris unternommen, Kinder und Jugendliche sind mit Becherlinsen unterwegs und sammeln eifrig und aufgeregt Kleinsttiere, um sie an Hand von Bestimmungsbüchern besser kennenzulernen (und wieder frei zu lassen, versteht sich).
Auf Moorwiesen und Streuobstwiesen werden Wildblumen entdeckt, bestimmt, kategorisiert; der Gehölzpfad informiert über einheimische Laub- und Nadelbäume – und die jungen Menschen lernen das Staunen über die Artenvielfalt und wie man diese schützen und bewahren kann. Besonders spannend ist der Moorwald Erlebnispfad, wo man mit Schwingseil oder Floß über das Moor kann – oder auch mal im Moor landen, aber das, erzählt mir Referentin Johanna lachend, sei ja nicht weiter schlimm; nass werden, sich schmutzig machen, das gehöre nun mal zur Naturerfahrung.
Was ich bewusst wahrnehme, die Schülerinnen und Schüler aber sicher wohl nur beiläufig erleben: Das hier ist ein unaufdringlicher Kirch-Ort, an dem niemand mit Frömmigkeit konfrontiert wird, aber die salesianischen Werte spürbar werden: die Offenheit für junge Menschen und die Freude an der Begegnung mit ihnen; eine familiäre Atmosphäre und ein großes Wohlwollen gegenüber allen jungen Gästen; eine Sensibilität für globale Zusammenhänge – und die Bereitschaft, das eigene Tun in den Kontext der Frohen Botschaft des Evangeliums zu stellen. Auf dem Klostergelände leben und arbeiten 34 Patres der Salesianer Don Boscos, es gibt eine Jugendherberge, ein Aktionszentrum der Salesianer, ein Jugendpastoralinstitut, es gibt eine Fakultät der Katholischen Stiftungshochschule München, an der man Soziale Arbeit und Religionspädagogik (und bald auch Soziale Arbeit mit naturgestützter Intervention – Green Care) studieren kann.
Und es gibt eben jenes Zentrum für Umwelt und Kultur, ein Bildungs- und Gästezentrum, das sich im Jahr 1988 aus der Salesianergemeinschaft heraus entwickelte und das Ziel hat, Kinder, Jugendliche und Erwachsene für die Schönheit der Natur, Artenvielfalt und die Wertschätzung für das Leben zu sensibilisieren, indem es Erfahrungsräume bietet, wie man sie so nur selten findet. Ein neuer Erfahrungsraum ist seit diesem Frühjahr der Zeltplatz mit Jurten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Alpinen Steinschafen.
Tiergestützte Pädagogik: Alpine Steinschafe
Zehn weibliche Schafe grasen auf der Wiese neben dem Zeltplatz, die meisten von ihnen sind Alpine Steinschafe, eine vom Aussterben bedrohte regionale Rasse, die sehr gut auf mageren Wiesen und sogar im Hochgebirge leben kann.2 Dass Schafe Fluchttiere sind, wissen die Schülerinnen und Schüler schon. Auch, dass es ruhige, ungefährliche und zutrauliche Tiere sind, wenn man ihnen Zeit gibt, sich zu nähern. Und das wird nun – bei aller Ungeduld, endlich auf die abgezäunte Schafwiese gehen zu dürfen – geübt.
Und tatsächlich: Die Kinder, die vorher noch getobt haben und quer über das Gelände gerannt sind, lassen sich auf die Ruhe der Schafe und eine behutsame Annäherung ein. Voller Begeisterung studieren sie die Steckbriefe, die es zu jedem Schaf gibt, beobachten, ob sie die dort geschilderten Charakterzüge erkennen und machen sich auf die Suche nach dem Schaf Petra, das die Chefin der Truppe sein soll.
Am nächsten Tag werden sie lernen, wie der Alltag und das Jahr mit Schafen aussehen. Aber sie werden auch den Prozess kennenlernen, den Schafzüchterin und Bildungsreferentin Verena mit den Worten „Vom Schaf zum Schal“ beschreibt. „Die Kinder sollen den Kreislauf regionaler Produktion und nachhaltigen Wirtschaftens am Beispiel der Wolle kennenlernen. Wir schauen uns die Herstellung, die Eigenschaften und die Einsatzmöglichkeiten von Wolle an – und am Nachmittag filzen wir noch gemeinsam.“ Für die Kinder ein tolles Gefühl, auf diese Weise ein Stück von ihrem Lieblingsschaf mit nach Hause nehmen zu können.
Die Viertklässlerinnen und Viertklässler werden viel über das Zusammenspiel von Tier und Natur hören und es beobachten können: Die Schafe sind perfekte Landschaftspfleger. Sie fressen junge Baumaustriebe, verjüngen Sträucher und verhindern eine Verbuschung der Wiese. Nach der Einführung dürfen die Kinder die ganze Woche über auf die Wiese zu den Schafen, wenn sie die Nähe der Tiere suchen und wollen – ein Beitrag zur seelischen Gesundheit für eine Generation von Digital Natives, die den Versuchungen der digitalen Welt oft so schutzlos ausgeliefert sind.
Lernen für das limbische System
Für mich endet der Tag mit „meiner“ 4. Klasse. Die Schülerinnen und Schüler gehen zum Abendessen im nahen Kloster; danach haben sie sich mit Praktikantin Svenja und Volontärin Janina zum Nachtspaziergang verabredet, um Fledermäuse zu beobachten. Sie bekommen Bat-Detektoren, die die hochfrequenten Rufe der Fledermäuse in hörbare Laute verwandeln. Davor wollen sie noch einmal nach den Schafen sehen und auskundschaften, wo und wie sie eigentlich schlafen.
Sie haben eine spannende Woche vor sich, in der in ihrem Gehirn etwas Wunderbares passieren wird: Episodisches Lernen wird sich mit semantischem Lernen verknüpfen, individuelle Erfahrungen werden zusammen mit kontextuellen Informationen in den Hippocampus und Cortex wandern und dort abgespeichert werden. Wenn sie nach dieser Woche nach Hause fahren, werden sie wissen, wie Schafzucht und Schafhaltung funktionieren, aber auch, wie Schafe riechen und wie sich das Fett ihrer Wolle anfühlt; sie werden die Nähe von Schafen erlebt und erfahren haben, dass Schafe sie vorurteilsfrei annehmen. Und sie werden erlebt haben, dass die Nähe zu den Tieren sie entschleunigt, ihnen hilft, runterzukommen und bei sich zu sein – und nicht am Handy.
Ich wünsche „meiner“ vierten Klasse und vielen jungen Menschen, die dorthin kommen, die Erfahrung von Konrad Lorenz: „Man liebt nur, was man kennt, und man schützt nur, was man liebt.“
Barbara Staudigl, Prof. Dr., ist Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH) und einer Fachakademie in München. Sie war viele Jahre als Lehrerin, Pädagogikprofessorin und Schulleiterin tätig.
Bild: privat
Beitragsbild: privat
- Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die Sparkassenstiftung, die Sparkasse Bad Tölz Wolfratshausen und das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz haben die Umsetzung des Zeltplatzes finanziert. ↩
- In der Begleitausstellung im Zentrum für Umwelt und Kultur von Schafzüchterin Verena Hausmann kann man lesen, dass im Herdbuch weniger als 1000 Tiere dokumentiert sind. ↩