Kerstin Menzel mit einigen Eindrücken vom Schweizer Kirchenbautag in Zürich und dem 31. Evangelischen Kirchbautag in Berlin.
Traditionell ist der etwa alle drei Jahre stattfindende Evangelische Kirchbautag ein Ort des Diskurses zum Bauen. Noch vor drei Jahren in Köln waren die architektonisch anspruchsvollen Neubauten einer kleiner werdenden Kirche zentral im Fokus der Veranstaltung. Schon in den letzten Treffen der alle drei Jahre stattfindenden Fachtagung hat sich das Thema des Rückbaus bereits ins Programm gemischt. Beim 31. Kirchbautag in Berlin am vergangenen Wochenende jedoch war es in einer Schärfe präsent, wie vielleicht vorher noch nicht. Unter dem Motto „Wirklichkeiten und Wege“ standen die Themenfelder „Bedarfe und Realitäten“, „Nutzungspartnerschaften“ und „Teilhabe“ im Programm. Damit fokussierte sich die Aufmerksamkeit in eine Richtung, die auch den wenige Wochen vorher in Zürich stattfindenden Schweizer Kirchenbautag prägte, der zwar erst seit 2015, dafür alle zwei Jahre tagt: „Kirche im Quartier“ – die Erweiterung der Nutzungen in Bezug zum Sozialraum und die zivilgesellschaftliche Mitwirkung für den Erhalt und Betrieb der kirchlichen Räume.
Erweiterung der Nutzungen in Bezug zum Sozialraum und die zivilgesellschaftliche Mitwirkung für den Erhalt und Betrieb der kirchlichen Räume
Als Praktische Theologin, die an beiden Veranstaltungen mit Vortrag (Zürich), Mitwirkung an vorher erarbeiteten Thesen und einem Workshop (Berlin) beteiligt sein durfte, hat mich die Selbstverständlichkeit der unterliegenden Zielvorstellung in beiden Kirch(en)bautagen beeindruckt. Die Bewahrung bzw. Wiedergewinnung des öffentliche Charakters und die Öffnung von Kirchen für gesellschaftliche Anliegen waren im Grunde die unbestrittene Voraussetzung aller Überlegungen.
Öffnung von Kirchen für gesellschaftliche Anliegen im Grunde die unbestrittene Voraussetzung
Damit ist ein wesentliches Anliegen des im Frühjahr 2024 veröffentlichen Kirchenmanifests „Kirchen sind Gemeingüter“, das aus dem Raum von Denkmalpflege und Baukultur entstand und von 22.000 Unterzeichner:innen unterstützt wurde, als Konsens anzusehen. Auch im Kontext kirchlicher Schrumpfung ist es ein mehrheitsfähiges Ziel, die Kirchengebäude als öffentliche und soziale Orte zu erhalten und weiter als solche zu profilieren.
Die Kirchen selbst haben diesen Konsens in ihrer Reaktion auf das Manifest unterstrichen: „Evangelische und katholische Kirche sind sich mit den Initiatorinnen und Initiatoren des Manifests in dem zentralen Anliegen einig: Kirchengebäude sollen gemeinsam für die Gesellschaft und für die Nachwelt in lebendiger Nutzung erhalten werden.“ Es ist bedauerlich, dass in der öffentlichen Wahrnehmung eher die empfindliche Reaktion auf enteignende Rhetorik (verstärkt durch den Vorschlag aus den Reihen der Initiator:innen, die Staatsleistungen gewissermaßen umzuwidmen) und der Widerspruch gegen einen stark kirchenkritischen Unterton des Manifests in Erinnerung geblieben ist. Mit den zurückhaltenden Akzenten in der Stellungnahme verwahren sich die Kirchen Zuschreibungen im Manifest, „zunehmend nicht mehr in der Lage [zu sein], diesen wertvollen Bestand zu erhalten“, sie allein „als Immobilien“ zu betrachten und sich oft „bereits von den kulturellen Markern ihrer Religion verabschiedet“ zu haben. Zuschreibungen, die bereits bestehende Bemühungen von Gemeinden und Landeskirchen um eine Erhaltung von Kirchen als soziale Orte und die existierenden Leitlinien in vielen Kirchen, die eine soziale und kulturelle Nutzung priorisieren, kaum würdigen. Das große „Ja“ der Kirchen zu partnerschaftlicher und für die Gesamtgesellschaft offener Weiterentwicklung der Nutzung von Kirchenräumen wurde mit dem Kirchbautag in Berlin und den dort diskutierten Thesen nun noch einmal deutlich unterstrichen.
„Kirchengebäude sollen gemeinsam für die Gesellschaft und für die Nachwelt in lebendiger Nutzung erhalten werden.“
Auf der Basis dieses Konsenses wurde in Berlin – ebenso wie in Zürich – vor allem die Frage bewegt, wie dies gelingen kann. Dazu will ich im Folgenden einige Einsichten skizzieren:
1) Stärker als in vorherigen Kirchbautagen waren neben Bauverantwortlichen, Expert:innen aus der Denkmalpflege und Architekt:innen auch Akteure aus Stadtplanung und Regionalentwicklung präsent. Kirchen für gesellschaftliche Bedarfe zu öffnen, setzt ja voraus, diese auch differenziert und professionell wahrnehmen zu können. Allzu oft finden sich in Kirche ja gute Ideen, wie der Einbau von Badewannen für Arbeiter im heutigen Haus der Diakonie in Zürich zur Jahrhundertwende, die aber – so machte Christoph Sigrist deutlich – wohl nie wirklich benutzt wurden. Quartiersentwicklung und Stadtplanung wissen auch um die Notwendigkeit, unterschiedliche Bedarfe auszuhandeln. Prozesse im Vorfeld der Planung („Phase 0“) gewinnen damit nochmals an Bedeutung. Der besondere Auftrag der Kirchen für die Schwächsten der Gesellschaft findet im Blick auf die Bedarfe seine Konkretion und legt eine Kooperation auch mit Diakonie und Caritas nahe, wie sie in etlichen der vorgestellten Projekte eine zentrale Rolle spielte.
Quartiersentwicklung und Stadtplanung wissen auch um die Notwendigkeit, unterschiedliche Bedarfe auszuhandeln.
2) Damit verbunden sind Entwicklungsprozesse von außen nach innen zu denken, weitere Gebäude einzubeziehen und die Ensembles mitzudenken. So zogen im Open Place in Kreutzlingen Kleiderbörse, Café und Kreativ-Atelier zunächst in die umliegenden Gebäude. Erst nach und nach wurde vorstellbar, auch im Kirchenraum selbst anderes zu tun und dafür neue Möblierung zu schaffen (einen runden Tisch etwa). Während es unter traditioneller orientierten Gemeindemitgliedern nicht selten große Zurückhaltung im Blick auf erweiterte Nutzungen im Kirchenraum gibt, ist die Offenheit in anderen Räumen größer. Die Zusammenarbeit und die gemeinsamen Erfahrungen lassen dann oft das nötige Vertrauen wachsen, damit auch der eigentliche „Sakralraum“ ins Spiel kommen kann.[1]
Entwicklungsprozesse von außen nach innen zu denken
3) Auf beiden Kirch(en)bautagen wurde die Bedeutung der Kunst für das Knüpfen neuer Netzwerke und die Erschließung von neuen Bedeutungen des Kirchenraums deutlich. Eindrücklich war in Zürich etwa die Vorstellung eines partizipativen künstlerischen Prozesses, durch den ein ehemaliges Kloster wieder mit dem nahen Dorf verbunden und die Klosterkirche als Zielpunkt einer die Ressourcen des Sozialraums würdigenden Brotprozession und als Ort des Brotbackens ganz neu zur Geltung kam (Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, Der Eilige Geist kommt zur Ruhe, Kloster Schönthal). Sozialraumorientierung als partizipativer Prozess wird angeregt durch künstlerische Interventionen, die Ideen und Ressourcen vor Ort einbeziehen.
Sozialraumorientierung als partizipativer Prozess wird angeregt durch künstlerische Interventionen
4) Die gegenwärtige Situation erfordert auch ein anderes Bauen. Veränderungen an Kirchengebäuden fügen sich damit in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs um die Notwendigkeit und die Chancen einer Umbaukultur ein. Schlagworte waren etwa „einfaches Bauen“, die Ermutigung von Ulrike Wendland im Bewusstsein von Demut zu bauen und daher nicht alles zur Perfektion zu treiben oder das Plädoyer von Sonja Beeck, durchlässige Trennungen zur behutsamen Zonierung von Kirchengebäuden neu zu denken. Stefan Wulfert hob in Zürich den Respekt als wesentliche Tugend hervor: die Bereitschaft, nicht alles den eigenen Maßstäben, Werten und Präferenzen zu unterwerfen.
Respekt als wesentliche Tugend: die Bereitschaft, nicht alles den eigenen Maßstäben, Werten und Präferenzen zu unterwerfen.
5) Personelle Ressourcen werden in sozialen Nutzungskonzepten zentraler. Vielfältige Expertise und das Ehrenamt als wesentlicher Gelingensfaktor zogen sich als rote Fäden durch die Diskussionen. Wie lassen sich dafür neue Partner:innen in der Zivilgesellschaft gewinnen? Es klangen an: Hineingehen in zivilgesellschaftliche Netzwerke, Verbünden mit der Diakonie, Ermöglichung temporärer Nutzung. Was aber ist, wenn niemand da ist? Welche Zukunft haben Kirchenräume in zivilgesellschaftlich schwachen Regionen?
Personelle Ressourcen werden in sozialen Nutzungskonzepten zentraler.
6) Das Religiöse verliert in diesem Transformationsprozess ein Stück weit seine Selbstverständlichkeit.[2] Im Gespräch zwischen Pfarrer und Stadtplanerin in Zürich wurde der Wechsel der Perspektiven auch als Wechsel im Sprachspiel hervorgehoben. Die Ansprüche von außen machen die bleibende Bedeutung sichtbar, aber konstruieren Verständnisse des Raums, in denen sich die Kirchenleute nicht immer sofort wiederfinden. Daher braucht es Übersetzungsleistung und die Neugier, das Religiöse in den erst einmal säkular daherkommenden Nutzungen und Zuschreibungen zu finden. Eindrücklich etwa die Diskussionen um den adäquaten Umgang mit dem Abendmahlstisch in den vielfältigen Zwischennutzungen in der Markuskirche unter dem Label BimBam Bern zwischen Tattoofestival, Indoorspielplatz und Community Kitchen.
Johannes Stückelberger kritisierte in Berlin zurecht ein auf den Gottesdienst verengtes Kirchenbild in der Stellungnahme zum Kirchenmanifest und warnte vor zu klaren baulichen Trennungen in „sakrale“ und „nicht-sakrale Bereiche“. Auch soziale Nutzungen seien aus den Grundvollzügen von Kirche heraus als „Kirche“ zu denken und mit dem Evangelium in Verbindung zu sehen.
die Neugier, das Religiöse in den erst einmal säkular daherkommenden Nutzungen und Zuschreibungen zu finden
Durchaus eine Aufgabe von Theolog:innen, die in manchen Gesprächen auf den Kirchbautagen vermisst wurden und deren Expertise zugleich deutlich eingefordert wurde. Aber auch der Gottesdienst und das Spirituelle, so Superintendentin Almut Bellmann in Berlin, müsse sozialraumorientiert neu gedacht werden: in kleinen Orten für Spiritualität und in verständlichen und zugänglichen liturgischen Gestaltungen, die zum Sozialraum passen. Die recht vage Rede von Kirchen als spirituell bedeutsamen und daher „vierten Orten“ im Manifest fand in solchen Aspekten eine überaus interessante Konkretion.
Auch das Spirituelle neu denken.
7) Ein Aspekt harrt wohl noch der Vertiefung auf zukünftigen Kirchbautagen: Die ökologische Nachhaltigkeit in ihrer Relation zur sozialen Nachhaltigkeit wurde nur in Ansätzen zum Thema. Stefan Wulfert spielte ihn etwa über die Betonung des Reparierens in einer Wegwerfgesellschaft ein. Inwiefern verändern die Klimaverschiebungen, die schon jetzt Substanzverluste etwa durch trockene Böden unter den Dorfkirchen nach sich ziehen, und die damit verbundenen politischen Entwicklungen das Nachdenken über Kirchenräume? Wie lässt sich das Dilemma zwischen Gebäudeerhalt und ambitionierten kirchlichen Klimagesetzen lösen, ohne die Gebäude an andere abzugeben, die sie ebenso wenig klimaneutral weiterbetreiben (so Jörg Beste in Berlin)? Als Wärmeräume in der Heizungskrise und als kühle Räume in überhitzten Innenstädten sind Kirchen (in ihren unterschiedlichen baulichen Voraussetzungen) schon im Blick. Wem sollen sie zukünftig noch Schutz bieten? Wem wollen die Kirchen sie in Zeiten des verschärften Tons gegenüber den Schwachen in Zukunft zur Verfügung stellen?
Dr. Kerstin Menzel vertritt aktuell die Professur für Praktische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Aktuelle Forschungsprojekte: Habilitationsprojekt zur Öffentlichkeit des Gottesdienstes, Teilprojekt 2 der DFG-Forschungsgruppe „Sakralraumtransformation“ sowie eine Studie zu Gottesdienst & Familien in der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens.
Bild: Adventsmarkt im Stadtteilzentrum Westkreuz 2023 / Heilandskirche Leipzig, Bild: Westkreuz
[1] Vgl. hierzu auch Kerstin Menzel / Alexander Deeg (Hg.), Diakonische Kirchen(um)nutzung (Sakralraumtransformationen 2), Münster 2023, open access.
[2] Die Veränderung des Religiösen, so wurde in Berlin immerhin am Ende der Tagung im Vortrag von Anna Körs deutlich, müsste sich auch noch stärker in der Reflexion multireligiöser Zusammenhänge niederschlagen.
Beide Tagungen werden in den kommenden Wochen auf der jeweiligen Website dokumentiert: Schweizer Kirchenbautag und Kirchbautag Berlin