Alexander Deeg zu 500 Jahre „Deutsche Messe“ – und was Luther uns heute liturgisch sagen würde.
Zögernd und leidenschaftlich
Nein, liturgische Reformen hatten nicht die Top-Priorität im Wirken des Reformators Martin Luther. Erst spät wurde er aktiv und musste geradezu geschoben werden, um endlich auch eine deutsche Fassung des sonntäglichen Messgottesdienstes vorzulegen. Vor exakt 500 Jahren war es dann aber so weit; Anfang 2026 erschien Luthers „Deutsche Messe“ im Druck.
Luther musste geradezu geschoben werden, um endlich auch eine deutsche Fassung des sonntäglichen Messgottesdienstes vorzulegen.
500 Jahre danach ist die liturgische Reformbereitschaft definitiv größer. Wer gegenwärtig von Kirchenkrise spricht, nimmt diese nicht selten zuerst als eine Krise der Gottesdienste wahr. Dann verbinden sich dunkle Verfallsbilder der Kirche mit tiefschwarzen Bildern eines Gottesdienstes, zu dem vermeintlich niemand mehr komme, den niemand mehr verstehe, der zu viele Ressourcen verschlinge und den man vielleicht am besten abschaffen solle, um wieder Zeit, Geld und Kreativität für Anderes zu haben. In dieser Situation blicke ich auf Luther als Liturgie-Reformer – und meine, dass er uns durch die Zeiten etwas zu sagen haben könnte.
tiefschwarze Bildern eines Gottesdienstes, zu dem vermeintlich niemand mehr komme und den niemand mehr verstehe
Das Wort, nicht die Reform
Drei Wochen im Oktober 1525 stand das Leben Luthers im Zeichen der Reform der Liturgie. Dann wurde am 29.10.1525 erstmals „Deutsche Messe“ in der Stadtkirche in Wittenberg gefeiert. Immer wieder hatte Luther vor zu großer Eile gewarnt und vor allzu disruptiven Veränderungen. Es ging ihm um die ‚Schwachen‘, um alle, die sich an ein Ritual gewöhnt haben und davon auch etwas erwarten. Es ging ihm aber vor allem darum, das Entscheidende nicht in der Veränderung der Form der Feier zu suchen. Auf gar keinen Fall sollte der Mensch den Gottesdienst als sein Werk in die eigenen Hände nehmen. Ein allzu selbstgefälliges Reformieren erschien Luther genauso gefährlich wie ein allzu selbstgefälliges Beharren auf der vermeintlichen ‚Richtigkeit‘ einer traditionellen Feierform.
das Entscheidende nicht in der Veränderung der Form der Feier zu suchen.
Deshalb war Luther 1522 von seinem Versteck auf der Wartburg nach Wittenberg zurückgekehrt – eine durchaus riskante Entscheidung! Dort hatte Karlstadt eine deutsche Messe eingeführt und den Kirchenraum von allzu unreformatorischen Kunstwerken ‚gereinigt‘. Luther protestierte und schärfte ein: Es geht um das Wort, nicht um die Veränderung von Äußerlichkeiten.
Immerhin legte Luther wenig später, Anfang 1523, mit seiner „Formula Missae et Communionis“ eine Form der lateinischen Messe vor, die die theologische Kritik am mittelalterlichen Messopfer, das die Kirche Gott gegenüber immer neu darbringt, herausnahm und vorsichtige Schritte hin zu einer liturgischen Veränderung ging. Auch die deutschsprachige Predigt war darin fest verankert, und Luther betonte mit dem Wort „Communio“ (Gemeinde/Gemeinschaft), das er dem Begriff „Missa“ hinzufügte, dass das Abendmahl als Feier der ganzen Gemeinde gestaltet werden sollte.
Vielerorts wurden dann aber in reformatorischen Gebieten Deutsche Messen eingerichtet und gefeiert, unter anderem auch 1523/24 in Allstedt unter Thomas Müntzer. Der Druck auf Luther wuchs. Auch sandte man Luther immer wieder andere deutschsprachige Ordnungen zu und bat ihn um eine Einschätzung. Meist war er nicht begeistert. Er meinte, es genüge nicht, den lateinischen Text irgendwie ins Deutsche zu übertragen und dann die überkommenen Melodien mit deutschen Worten zu singen – das wäre nur ein „Nachahmen wie die Affen thun“.[1]
Vielerorts wurden dann aber in reformatorischen Gebieten Deutsche Messen eingerichtet und gefeiert – Luther war nicht begeistert.
Gottesdienst als gemeinsame Klangperformance
Wie dann – wenn nicht nach der Affen Art? Luthers Reform war eine, wie wir heute sagen könnten, ebenso theologisch wie ästhetisch motivierte Reform. Er verlange nach liturgischer Qualität bei der Arbeit am ‚Jahrtausendwerk‘ der abendländischen Messe. Kurfürst Johann der Beständige sandte seine musikalischen Experten Johann Walter und Konrad Rupff nach Wittenberg. Drei Wochen war Luther mit den beiden in einer Art liturgischen Klangwerkstatt zusammen. Immer wieder sang Luther vor, wie er es sich vorstellte, und die Musiker kommentierten, korrigierten und entwickelten Eigenes.
liturgische Qualität bei der Arbeit am ‚Jahrtausendwerk‘ der abendländischen Messe
Am 29. Oktober 1525 wurde dann erstmals in der Stadtkirche in Wittenberg Deutsche Messe gefeiert. Johann Walter, der sich der Mühe der Abschrift der gesungenen Liturgie unterziehen musste, war durchaus beeindruckt und meinte: Wie der Heilige Geist bei den Autoren der lateinischen Messe gewesen sei, so sei er „auch im Herrn Luther, welcher jetzo die deutschen Choralgesänge meistenteils gedichtet und zur Melodie bracht“.[2]
Luthers Deutsche Messe beginnt mit einem Lied der Gemeinde, die dadurch das erste Wort im Gottesdienst erhält. Auch später ist sie beteiligt: im gemeinsam gesungenen Glaubensbekenntnis in Form eines deutschen Glaubensliedes („Wir glauben all an einen Gott“) oder beim „Heilig, heilig, heilig“ während des Abendmahls, das ebenfalls als Choral ausgeführt wurde („Jesaja, dem Propheten, das geschah“). Der Gottesdienst nach der Deutschen Messe ist nicht nur ein Hörereignis, sondern eine gemeinsame und meist gesungene Performance der versammelten Gemeinde.
… eine gemeinsame und meist gesungene Performance der versammelten Gemeinde.
Unterricht statt Feier?
Aber zuhören musste die Wittenberger Gemeinde schon auch, denn die Reform Luthers war auch pädagogisch motiviert. In gewisser Weise schuf Luther den ersten Jugendgottesdienst in der Geschichte christlicher Gottesdienste. Er wollte vor allem die jungen Menschen und die „Einfältigen“ erreichen,[3] die in einem lateinischen Gottesdienst nicht verstehen würden, was geschieht. Sie sollten nicht ‚etwas‘ lernen, sondern so geleitet werden, dass sie im Gottesdienst erfahren, dass und wie Gott sie anspricht, tröstet und befreit, und sie darauf antworten können.
So weit, so gut. Es gibt aber durchaus Anzeichen, dass in der Deutschen Messe das Pädagogische die Liturgie ersticken, der Pfarrer zum liturgischen Oberlehrer und die Kirche zum Klassenzimmer werden konnte. Luther wird zum Urheber eines sehr grundlegenden evangelischen liturgischen Problems. Besonders deutlich zeigt sich das zwischen Predigt und Abendmahl. Luther will das Vaterunser nicht einfach beten lassen, sondern paraphrasierend vorlesen. Und an die Stelle des Lobgebets zur Eröffnung der Mahlfeier setzt er eine Vermahnung, die auf den rechten Empfang des Mahles hinführen soll. Ob so angeleitet die Freude aufgrund der sicht- und schmeckbaren Gewissheit der zuvorkommenden Gnade Gottes wirklich erfahrbar werden konnte? In Wittenberg jedenfalls wirkte das Mahl augenscheinlich nicht übermäßig einladend. Ein Bericht aus der Mitte der 1530er Jahre zeigt, dass nicht wenige Menschen den Gottesdienst nach der Predigt verließen.
Anzeichen, dass in der Deutschen Messe das Pädagogische die Liturgie ersticken konnte
Die Deutsche Messe sollte für Luther allerdings auch nur eine Durchgangsstation sein: einerseits hin zur Feier des lateinischen Gottesdienstes, den Luther nicht abschaffen wollte, für den er sich aber Menschen wünschte, die verstehen, was da geschieht; andererseits hin zur Feier derer, „die mit Ernst wollen Christen sein“, die sich in den Häusern treffen und überhaupt keine äußeren Ordnungen (und auch keine Pfarrer!) brauchen. Aber solche Menschen gebe es, so Luther, derzeit noch nicht.
Hinein in die Bibel
Durch die Lesungen, Predigt und vor allem durch die Gestalt des Abendmahls wollte Luther – und dies scheint mir eine der wenig beachteten Pointen der „Deutschen Messe“ – die Gemeinde gleichzeitig machen mit dem in der Bibel Erzählten. Das zeigt sich in dem theologisch reizvollen, praktisch aber nicht ganz einfach zu realisierenden Vorschlag, beim Abendmahl erst die Worte über das Brot zu sprechen und dann unmittelbar das Brot auszuteilen, dann die Worte über den Wein und erst danach den Kelch zu reichen. Die Feiernden sollten die Worte Christi so hören und schmecken, als wären sie dabei gewesen bei Jesu letztem Mahl. Und auch die Lesungen sollten so klingen, dass die Gemeinde lebendig mitbekommt, worum es geht. Mit den beiden Musikern arbeitete er lange an einer Kantillation der Lesungen, die die Gemeinde hören lässt, wie lebendig und dynamisch die Bibel ist.
die Gemeinde gleichzeitig machen mit dem in der Bibel Erzählten
Impulse 500 Jahre danach
War Luthers „Deutsche Messe“ ein Erfolg? Ganz, wie man es sieht: In der Reinform wurde sie selbst in Wittenberg kaum gefeiert (und etwa die getrennte Austeilung von Brot und Wein schaffte man 1533 schon wieder ab, falls sie jemals praktiziert wurde); andererseits aber erwiesen sich die Impulse als wirksam für unzählige andere nicht minder ästhetisch, pädagogisch und biblisch ausgerichtete evangelische Gottesdienstordnungen in den folgenden Jahren.
Luthers Reform macht deutlich: Gottesdienst lebt aus der Tradition und braucht gleichzeitig die kritisch-konstruktive Innovation. Es erscheint im Rückblick fast verwunderlich, mit welcher Treue sich Luther an das Vorgegebene hielt. Er veränderte behutsam und nur wo nötig, legte allen Wert darauf, die Linie der abendländischen liturgischen Feier zu erhalten. Die „Deutsche Messe“ sollte als „Messe“ erkennbar und die Verbindung mit den Anfängen erlebbar bleiben.
Gottesdienst lebt aus der Tradition und braucht gleichzeitig die kritisch-konstruktive Innovation.
Luther zeigt damit auch: Gottesdienst verdient jede ästhetische Leidenschaft und muss vor allem im Blick auf seine Klanggestalt immer neu entwickelt werden. Bei alledem hat er freilich kein ästhetisches, sondern ein theologisches Ziel. „Schön“ ist ein Gottesdienst nur dann, wenn er Gott nicht im Weg steht, sondern ihm:ihr dient, damit er:sie immer neu zu Wort kommen kann. Luther erinnert damit jede Gottesdienstreform, dass es dabei nicht darum gehen darf, wie die Kirchen (wieder) voll werden können oder was Menschen vielleicht hören wollen, sondern darum, wie es gelingen kann, dass heute Gottes unterbrechendes und befreiendes Wort wieder laut wird.
kein ästhetisches, sondern ein theologisches Ziel: „Schön“ ist ein Gottesdienst nur dann, wenn er Gott nicht im Weg steht, sondern ihm:ihr dient.
Wobei: „Gottes Wort“ ist ein großer Begriff, der manchmal so selbstverständlich verwendet wird, dass er semantisch leer wird. Für Luther bedeutet es, die Feier so eng wie möglich an die Bibel binden – durch die neue Weise, Epistel und Evangelium zu singen, durch eine engagierte Predigt, durch die deutlich hörbaren Einsetzungsworte, durch deutschsprachige Psalmlieder und ein deutsches Sanctus und durch den aaronitischen Segen, der den Gottesdienst beschließen sollte: „Der Herr segne dich und behüte dich …“ (Num 6,24–26). Wir feiern 2026 auch 500 Jahre aaronitischen Segen im evangelischen Gottesdienst! Summa: Es geht auch heute darum, die Bibel zum Klingen zu bringen mit den Stimmen derer, die jetzt feiern! Dass 500 Jahre nach Luthers Deutscher Messe ein neues Gesangbuch erprobt wird, ist da bestimmt kein schlechtes Zeichen.
Alexander Deeg, Dr. theol., ist seit 2011 Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig mit den Schwerpunkten Homiletik und Liturgik und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD.
Bild: Altarbild in der Torslunde Kirke, Dänemark, nach einem Stich von Lucas Cranach (1561), Quelle: Wikicommons / Lennart Larsen, Nationalmuseet
[1] Luther, Wider die himmlischen Propheten, WA 19,45f. (Ende 1524).
[2] WA 19,50.
[3] So in der Vorrede Luthers zur Deutschen Messe, WA 19,74.
Der Ablauf der „Deutschen Messe“ (1525/26)
Gemeinsamer Beginn mit deutschsprachigem Choral oder deutschem Psalm
Kyrie eleison
Kollektengebet
Epistellesung
Deutschsprachiges Lied
Evangelienlesung
Gemeinsam gesungenes Glaubensbekenntnis („Wir glauben all an einen Gott“)
Predigt
Paraphrase des Vatersunsers und Abendmahlsvermahnung
Abendmahl (zuerst Worte über das Brot, dann Austeilung des Brotes; dann Worte über den Wein und Austeilung des Weins; während der Austeilung: gemeinsam gesungenes deutsches Sanctus oder andere Lieder)
Gebet
Aaronitischer Segen


