„Die Wirklichkeit sehen und sich ihr stellen, in der genauen Kenntnis dessen, was Verantwortung heisst.“ (Buber [1]) Eine Erinnerung von Thomas Sojer
Jerusalem, 13. Juni 1965. Barbara tritt ins Zimmer. Ihr Großvater liegt reglos im Bett. Seit dem Sturz vor einigen Wochen hatte sich sein Zustand verschlechtert. Noch in derselben Stunde verbreitet sich die Nachricht in der ganzen Stadt: Martin Buber (1878–1965) ist tot. Wenig später stehen David Ben-Gurion und Schai Agnon am Totenbett. Sie diskutieren lebhaft auf Jiddisch. Eine Szene wie aus einem Theaterstück. Das Haus – südwestlich der Jerusalemer Altstadt – war seit Jahrzehnten ein Ort des Dialogs. Am nächsten Morgen wird Buber feierlich durch Jerusalem getragen, zum Friedhof Har HaMenuchot. Auf seiner Grabplatte steht in Hebräisch Psalm 73: „Und doch bleibe ich stets bei dir / meine rechte Hand hast du erfasst. / mit deinem Rate leitest du mich, / und danach nimmst du mich in Ehren hinweg.“[2] Worte, die Bubers Leben und Denken bündeln. Er hatte die Verse 1929 am Grab Franz Rosenzweigs in Frankfurt gesprochen, bevor sie dort auf dem Grabstein angebracht wurden.
Bubers Haus – seit Jahrzehnten ein Ort des Dialogs
Psalm 73 ist kein Trosttext. Sondern ein Selbstverständnis. Der Beter fragt nach dem Warum der Ungerechtigkeit – und bekennt, dass sein Glaube daran beinahe zerbrach. Er sieht die Lüge, das Leid, die Ungleichheit – und antwortet, indem er anders handelt. Buber schreibt 1952 über die Quelle dieses Selbstverständnisses:
„[E]s gibt eine Sprache, in der wir [der zu uns sprechenden Transzendenz] antworten können; das ist die unserer Handlungen und Haltungen, unserer Reaktionen und unserer Unterlassungen; in der Gesamtheit dieser Antworten ist beschlossen, was wir im eigentlichen Sinn unsere Verantwortung nennen dürfen. Diese fundamentale Interpretation unseres Daseins verdanken wir der hebräischen Bibel; und so oft wir wahrhaft in ihr lesen, wird uns unser Selbstverständnis erneuert und vertieft.“[3]
„die Sphäre des lebendigen gesprochenen Wortes“
Vor genau hundert Jahren, im Mai 1925, begannen Martin Buber und Franz Rosenzweig in diesem Selbstverständnis die Verdeutschung der Schrift. Gershom Scholem bringt die Hauptabsicht dieses Unternehmens auf den Punkt: „Sie wollten nicht die Bibel als Schrifttum übersetzen, nicht das Literarische, vom Leser auch mit den Augen Aufnehmbare war Ihnen wichtig, sondern gerade die Sphäre des lebendigen gesprochenen Wortes.“[4] Drei Akzente umfasst der Anspruch des Wortes, der in der Gesprochenheit der hebräischen Bibel gründet: Alterität, Augenhöhe und Wahrheit.
1. Vertraute Alterität
„Auf Vertrauen steht die Welt.“[5] – lautet für Buber eine der Grundwahrheiten biblischer Begegnungen. Vertrauen zwingt sich nicht auf. Es fordert keinen Kadavergehorsam. Es gelingt nur im Gespräch – nicht im Monolog der Selbstverwirklichung. Und es bleibt verletzbar. Vertrauen ist die Folge einer Entscheidung eines Menschen, der wahrhaftig seinem Du begegnet ist und darin seine Freiheit erkennt. Buber formuliert es in „Ich und Du“ (1923) so: „Nur wer Beziehung kennt und um die Gegenwart des Du weiß, ist sich zu entscheiden befähigt. Wer sich entscheidet, ist frei, weil er vor das Angesicht getreten ist.“[6] Zuerst Begegnung. Dann im entscheidenden Augenblick: Entscheidung. Und von da an: Treue – nicht zur eigenen Projektion, sondern zur Andersheit des Anderen.
Zuerst Begegnung. Dann im entscheidenden Augenblick: Entscheidung. Und von da an: Treue.
Buber lernt das auch mit Lou Andreas-Salomé (1861–1937). Psychoanalytikerin. Schriftstellerin. Wagnis für Nietzsche. Für Rilke Verhängnis. Freud nannte sie Glücksfall. Buber bittet Lou um ein Buch für seine sozialpsychologische Schriftenreihe „Die Gesellschaft“. Lou schreibt daraufhin „Die Erotik“, erschienen als Band 33 (1910). Darin entwirft sie Sexualität nicht als Begehren, sondern als hervorbringende Urkraft: eine Entäußerung des Ich – bis zur Auflösung. Eine Entgrenzung, die Machtverhältnissen zuwiderläuft. Buber pries das Werk: Das Ich muss aus sich heraus. Es darf sich nicht einkapseln. Nicht sich selbst genügen. Er fragt mit Lou – gegen eine Erotik des Narzissmus: „Wenn man von all der vielberedeten Erotik des Zeitalters alles abrechnete, was Ichbezogenheit ist […] worin eins am andern nur sich selbst genießt – was bliebe wohl?“[7] Für Buber bleibt da vielleicht Affekt – ohne Begegnung. Körperkontakt – ohne Berührung. Nebeneinander – ohne Gegenwart.
Das Ich muss aus sich heraus. Es darf sich nicht einkapseln.
Und doch warnt Buber auch vor dem anderen Extrem: Was, wenn das Ich sich so sehr verschenkt, dass es im Du vergeht? Buber versucht in „Ich und Du“ darauf zu antworten: „[Liebes-]Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher, sondern die Wirklichkeit: die Liebe haftet dem Ich nicht an, so daß sie das Du nur zum ›Inhalt‹, zum Gegenstand hätte – sie ist zwischen Ich und Du.“[8] Was heißt es also, im Dazwischen zu leben? Es heißt: im Nehmen nicht selbstsüchtig zu verschlingen – aber auch nicht im Geben sich aufzulösen. Mit einem einzigen Wort: Vertrauen – es ist zwischen Ich und Du, hält sich in der Schwebe von Geben und Nehmen. Ein Vertrauen, das Antwort verlangt.
Ein Vertrauen, das Antwort verlangt.
2. Sicht auf Augenhöhe
Die Verantwortung aller – für die Freiheit, zu atmen, verschieden zu sein, gemeinsam zu leben – das Reich des Dazwischen war für Buber nichts Verfügbares oder Gemachtes. Es war gegeben. Als Gnade – dort, wo Begegnung geschieht, Beziehung Wirklichkeit erlangt. Buber suchte keine neo-romantische Utopie für bürgerliche Kleingärten. Er schreibt dazu: „Die Wirklichkeit sehen und sich ihr stellen, in der genauen Kenntnis dessen, was Verantwortung heisst.“[9]
Er machte diesen Maßstab zum Prüfstein internationaler Politik – und, in tragisch unbeirrbarer Hartnäckigkeit, zur Hoffnung auf eine gemeinsame Welt von Juden:Jüdinnen und Araber:innen im Heiligen Land. Sein lebenslanges Engagement gegen einen ethnonationalen Zionismus verband sich mit dem Eingeständnis einer realpolitischen Aporie: „Der Mensch als Mensch kann nicht leben ohne schuldig zu werden, und das Volk kann es nicht als Volk. Es geht einzig darum, Tag um Tag nicht mehr Schuld auf sich zu laden.“[10] Er gründete mit Gleichgesinnten Brit Schalom, später Ichud – Bewegungen für Verständigung, Gleichheit, einen binationalen Staat. Buber forderte gemeinsame Institutionen, zweisprachige Schulen, eine Verfassung, die beide Völker schützt.
„Es geht einzig darum, Tag um Tag nicht mehr Schuld auf sich zu laden.“
Seine Utopie blieb Randerscheinung. Von links belächelt. Von rechts bekämpft. Die Verantwortung Israels sah Buber darin, den arabischen Mitmenschen nicht als Hindernis zu sehen. Nicht als Problem, das gelöst werden muss – sondern als Gegenüber. Als vertrautes Gesicht, das geachtet werden will. Verantwortung heißt hier: an der Seite des Anderen mitzugehen – ohne sich selbst zu verlieren. Doch was bedeutet das für Juden:Jüdinnen und Araber:innen, für geteilte Geschichte, geteilten Boden? Buber schreibt: „Die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, daß Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und – daß sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen.“[11] Nicht Inklusion durch Chaos, nicht Gleichheit durch Indifferenz – sondern gelebte Verantwortung: im Vertrauen auf eine (verborgene) gemeinsame Mitte. Tragfähig. Aufeinander ausgerichtet. Vielseitig. Eine Mitte, die nicht Besitz ist, sondern Beziehung stiftet. Und hier kommt Gott ins Spiel – Gott, größer als alle Gottesbilder. Größer als jeder Gottesdienst. Eine Gegenwart, die nicht vereinnahmt werden kann, aber jede und jeden persönlich ruft „zum Dennoch-Bewältigen des anscheinend aller Bewältigung Widerstrebenden“[12].
gelebte Verantwortung: im Vertrauen auf eine (verborgene) gemeinsame Mitte
3. Jenseits der Lichtung brauchen wir das Vertrauen
Politische Gestaltung war für Martin Buber nicht vom Denken zu trennen. Auf dem Spiel stand die Frage: Was ist Wahrheit? Sie führte zu einer einmaligen Begegnung. Martin Heidegger (1889–1976) und Martin Buber trafen einander zum ersten Mal Ende Mai 1957 in Vorarlberg, am Pfänderhang, hoch über dem Bodensee. Dort entschied sich die Frage nach Wahrheit in der Frage nach Sprache. Buber bewegte Heidegger einst mit einem Satz: „Versöhnung wirkt Versöhnung.“[13] Und in Heideggers Deutung des Hölderlin-Verses – „Seit ein Gespräch wir sind / und hören können voneinander“[14] – sieht Buber Raum für ein mögliches Gemeinsames. Fast. Bevor es dazu kommt, stirbt Paula Buber. Buber zieht seine Teilnahme an der gemeinsam geplanten Tagung zurück. Heidegger spricht allein in München. Er lädt Buber später in seine Hütte auf dem Todtnauberg ein. Doch Buber lehnt auch das ab. Aus dem einmaligen Treffen wurde „Vergegnung“.
Sprache spricht sich nicht selbst. Sie wird gesprochen. Von jemandem. Zu jemandem.
Ein Jahr danach holt Buber seinen Vortrag ohne Heidegger nach und beginnt mit einem Einspruch. Heidegger sprach mit Novalis: „Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner.“[15] Buber widerspricht: Sprache spricht sich nicht selbst. Sie wird gesprochen. Von jemandem. Zu jemandem. In Beziehung. Für Buber entscheidet sich im Anspruch von Du zu Du die Frage nach Wahrheit. Heidegger nennt Wahrheit aletheia – das Sich-Zeigen des Seins. Buber dagegen: Emunah אֱמוּנָה – „Vertrauen in“, „Treue zu“, ein auf jemanden ausgerichtetes Handlungsgeschehen. Eine Wahrheit, die orientiert, die sich in der Bindung zum Du ereignet. In der Freiheit, sich zu binden. In der Gegenwart, sich zu entscheiden. „Du“ spricht sich immer mit einer Verantwortung, die aus empfangener Nähe erwächst.
„Du“ spricht sich immer mit einer Verantwortung, die aus empfangener Nähe erwächst.
Bleibende Nähe
Buber verdeutscht Psalm 73 nach Shoah, Weltkriegen und während des Nahostkonflikts. Er übersetzt das Nomen Kirvat קִרְבַת dabei nicht mehr wie bisher substantivisch („die Nähe Gottes“), sondern verbal – als Bewegung und Vollzug: „Gott nahn ist mir das Gute, / in meinen Herrn, DICH, habe ich meine Bergung gesetzt: / all deine Arbeiten zu erzählen“[16] Nähe wird hier nicht Gott zugeschrieben. Der Ball liegt hier nicht mehr bei Gott, und ebensowenig bei uns; wir erleben ein seltsames Geschehen dazwischen. Rabbi Pinchas von Korez pflegte zu sagen: „Wonach man jagt, das bekommt man nicht; aber was man werden lässt, das fliegt einem zu.“[17] – ein lebenslanges „Nahen“ muss von selber erwachsen, wenn wir uns den vielen Du zuwenden und uns im Anblick der Welt vom ersten – immerwerdenden – Du erzählen.
Thomas Sojer leitet die Bücherei in Hohenems, Vorarlberg. Zusammen mit Jörg Seiler betreibt er die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion an der Universität Erfurt, die schwerpunktmäßig mit aktuell entstehender Lyrik im deutschsprachigen Raum arbeitet.
Im Oktober erscheint vom Autor: „Lichtdurchlässig. Moderne Erzählungen zu biblischen Begegnungen“ im TVZ-Verlag.
Bild: Wikicommons, Boris Carmi / Meitar Collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection / CC BY 4.0
[1] Martin Buber, Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage, Martin Buber Werkausgabe (MBW) Band 21, S. 464.
[2] Preisung 37,23–24 (Buber-Rosenzweig)
[3] Martin Buber, Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, Martin Buber Werkausgabe (MBW) Band 8, S. 346.
[4] Gershom Scholem, Poetica: Schriften zur Literatur, Übersetzungen und Gedichte, S. 302.
[5] Buber, Schriften zur Literatur, Theater und Kunst, Lyrik, Autobiographie und Drama, MBW 7, S. 267
[6] Buber, Schriften über das dialogische Prinzip, MBW 4, S. 68.
[7] Buber, Schriften über das dialogische Prinzip, MBW 4, S. 64.
[8] Buber, Schriften über das dialogische Prinzip, MBW 4, S. 46–47.
[9] Buber, Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage, MBW 21, S. 464.
[10] Buber, Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage, MBW 21, S. 319
[11] Buber, Schriften über das dialogische Prinzip, MBW 4, S. 64.
[12] Buber, Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, MBW 8, S. 92.
[13] Martin Heidegger, »Mein liebes Seelchen«. Briefe Martin Heideggers an sein Frau Elfriede 1910–1974, S. 279
[14] Buber, Sprachphilosophische Schriften, MBW 6, S. 83
[15] Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Gesamtausgabe Band 12, S. 241.
[16] Preisung 37,28 (Buber-Rosenzweig)
[17] Buber, Chassidismus III. Die Erzählungen der Chassidim, MBW 18.1+2, S. 279.