Kirche als Akteurin im Gemeinwesen. Dorothee Land über die Arbeit des „Zentrums für Dialog und Wandel“
„Zentrum für Dialog und Wandel“ – letztes Jahr haben Sie diese Einrichtung mit einer veränderten Aufgabenstellung als Leiterin übernommen. Seitdem ergeben sich viele neue Kooperationen. Welche hat Sie am meisten überrascht – und was erhofft man sich dort von Kirche?
Als ich am 1. Februar 2024 meine Arbeit als Leiterin des Zentrums in Cottbus begann, war eine meiner ersten Einladungen die zu einem Treffen der „Bürgerregion Lausitz“. Dieses Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen bringt Menschen aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Ich war die einzige kirchliche Vertreterin im Raum – und ich war überrascht. Von der Offenheit, vom Engagement, von den konkreten Initiativen und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Niemand hat mich gefragt, wie viele wir sonntags in der Kirche sind. Aber alle wollten wissen: Was können Sie einbringen? Wie können wir uns vernetzen?
Niemand hat mich gefragt, wie viele wir sonntags in der Kirche sind.
Spannend für mich ist, dass das Thema Öffnung kirchlicher Räume für das Gemeinwesen auf große Resonanz stößt. Exemplarisch nenne ich Kontakte zum Kompetenzzentrum für Regionalentwicklung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, zum Institut für neue Industriekultur, zur Wirtschaftsregion Lausitz. In ländlichen Räumen fehlen öffentliche Räume. Da könnten die kirchlichen Orte wichtig werden. Die Frage ist, wie wir den Ball aufnehmen können. Die fertige Lösung oder ein kirchliches Programm wird es nicht sein. Es geht um eine Haltung: sich einlassen, ohne sofort an Nutzen oder Wirkung zu denken.
In der Vorbereitung eines Konvents zur Gemeinwesenorientierung von Kirche haben wir mit dem Konventsrat überlegt, Vertreter:innen der Zivilgesellschaft einzuladen. Da ändert sich die Perspektive grundlegend. Statt „unter uns“ nachzudenken, wollen wir direkt ins Gespräch: „Wie können wir gemeinsam für die Menschen in unserem Sozialraum wirksam werden?“ Einer hat dann treffend gesagt: „Wenn wir das wirklich ernst meinen, dann wird das auch piksen.“ Ja – und das ist notwendig. Wenn Kirche sich als Teil des Gemeinwesens versteht, dann wird sie nicht unversehrt bleiben. Aber sie wird lebendig.
Wenn Kirche sich als Teil des Gemeinwesens versteht, dann wird sie nicht unversehrt bleiben.
Kirche im Strukturwandel – mit welchen gesellschaftlichen Herausforderungen beschäftigen Sie sich im Zentrum, und warum sind diese für Kirche relevant?
Der Strukturwandel betrifft nicht nur Arbeitsplätze oder Energiepolitik. Er berührt Biografien, Heimatgefühle, die Frage nach Sinn und Perspektive, nach Trost und immer wieder Hoffnung und Zuversicht. Wenn ein Bürgermeister in einem Gespräch mit Vertreter: innen der Kirchen sagt: Eine der Lösungen für unsere Herausforderungen ist, dass wir auf Gott vertrauen, aber das ist heute nicht mehr selbstverständlich. Dann denke ich, was für ein starker Impuls. Wie wird unser Gottvertrauen zu einer Kraft in den Prozessen der Transformation?
Andere Themen in den ländlichen Räumen sind Einsamkeit, Mobilität und Teilhabe, Dialogverweigerung, aber auch Umgang mit rechtspopulistischen Einstellungen und mit Geflüchteten. Da sind Christ:innen vor Ort noch mehr gefragt – nicht als Expert:in für alles, aber als Mitspieler:in mit einem hörenden Herzen. Und unsere Orte sind wichtig. Sie werden nach wie vor für den Dialog adressiert, gerade auch mit den Erfahrungen der friedlichen Revolution. Kirche muss da aus der Deckung kommen, so ist es mir in einem Gespräch gesagt worden.
Kirche muss aus der Deckung kommen.
Was wird von Kirche – in ihrem ganz speziellen Charakter als religiöser Institution – erwartet, und was wird Kirche zugetraut?
Die Erwartungen sind nicht explizit religiös, aber für mich ohne meinen geistlichen Grund nicht zu leben. Sie heißen: Seid da. Bringt Leute zusammen. Moderiert. Hört zu. Bringt euch ein. Greift Themen auf, die heikel sind. Ihr könnt das, weil ihr weder politische noch wirtschaftliche Interessen habt. Wie 1989 an den Runden Tischen!
Greift Themen auf, die heikel sind!
Bei der Kreissynode in Wittstock-Ruppin sprach die stellvertretende Bürgermeisterin ein Grußwort. Sie hob hervor, wie sehr sie das kirchliche Engagement in der Stadt schätzt – und schloss mit dem Satz: „Werden Sie sichtbarer! Werden Sie lauter!“ Das hat mich sehr berührt. Laut sein – das heißt für mich nicht, alles besser wissen oder sich aufdrängen. Sondern sagen: Wir sind da. Wir wollen mitgestalten. Wir glauben, dass christliche Hoffnung eine gesellschaftliche Ressource ist.
Sie sind doch die mit der Zuversicht.
Öfter höre ich: Sie sind doch die mit der Zuversicht. Manchmal frage ich mich, ob uns da nicht viel mehr zugeschrieben wird, als wir uns selbst zutrauen. Als ob wir von außen an unseren Grund, der gelegt ist, erinnert werden. Unsere großen biblischen Erzählungen – von Exodus, Exil, Auferstehung. Die Fragen nach Sinn, nach Kraftquellen, um durch- und auszuhalten. Unsere Traditionsschätze erzählen und singen davon: Wandel ist möglich, Verlust ist nicht das Ende. Gottes Gegenwart wird erfahrbar, wenn wir loslassen.
Wandel ist möglich, Verlust ist nicht das Ende.
Wie reagieren Sie auf diese Erwartungen? Was bringen Sie und Ihre Mitarbeiter:innen ein in die Diskurse und Prozesse der Transformation?
Als Arbeitsstelle ziehen wir Verbindungen. Das beginnt mit: Hingehen. Zuhören. Mitdiskutieren. Ich war auf dem Gewerkschaftskongress, beim Kulturforum, auf dem Überlandfestival. Es gibt Kontakt zu Kunst, Industriekultur, Wirtschaftsunternehmen. Meine Kollegin besucht gerade in den ländlichen Räume Projekte, hat Kontakt zu jungen Kolleg:innen am Berufseinstieg, die nach Begleitung fragen. Wir laden uns ein – und lassen uns einladen.
Da, wo wir auf Menschen ohne kirchlichen Background treffen, wissen viele gar nicht, was Kirche tut. Also erzählen wir. Von gelebter Solidarität. Von Seelsorge. Vom Eintreten für die Würde jedes Einzelnen.
Viele wissen gar nicht, was Kirche tut: gelebte Solidarität, Seelsorge, Eintreten für die Würde jedes Einzelnen
Ich habe mit dem Pfarrer und mit den Ehrenamtlichen in der Stadt Forst in der Lausitz eine pilgernde Erkundung im Sozialraum erprobt. Wir sind an mehrere Orte gegangen und haben uns vom Engagement vor Ort erzählen lassen, in der Villa Digitalkultur, auf dem Friedhof, an einer immer noch zerstörten Brücke nach Polen, an herausgebrochenen Stolpersteinen, im Rosengarten. Das waren berührende Erzählungen. Und an jeder Station haben wir einen kleinen Text gelesen, ein Gedicht, ein Gebet und haben gesungen. So waren auf dem Weg Immanenz und Transzendenz verwoben. Hoffnung in Bewegung.
Ich profitiere gerade von der Möglichkeit auch in meiner Lektüre über den Tellerrand hinauszuschauen. Ich will hier nur eine Auswahl nennen: Corine Pelluchons Durchquerung des Unmöglichen, Andreas Reckwitz’ Verlust, Steffen Maus Ungleich vereint, Maja Göpels Wir können auch anders und besonders auch Wolfgang Becks Sprung in den Staub. Diese Impulse in die Kontexte ostdeutscher gesellschaftlicher Realität hineinsprechen zu lassen, erlebe ich als starke Inspiration.
Kirche am Rande der Gesellschaft findet sich dort unter anderen Randgruppen vor.
Zurzeit bereiten wir unsere erste große Tagung vor. Sie wird den Titel tragen: „Minderheiten machen Zukunft“. Der Impuls dazu kommt aus dem Text „Minderheit mit Zukunft“ von 1995. Darin heißt es: „Mit der erfahrenen Marginalisierung entdeckte die Kirche, dass nicht nur ihr ein Platz am Rande der Gesellschaft zugewiesen war. Sie fand sich dort unter anderen Randgruppen vor. Das machte sie sensibler für Diskriminierung und Entwürdigung. Es half ihr zu solidarischem Verhalten und ließ sie für die Rechte derer eintreten, die benachteiligt und ausgegrenzt wurden. […] Wollte die Kirche ihrem Auftrag gehorsam sein, konnte sie nicht länger in der Nische verharren. Sie mußte inmitten der Gesellschaft und in der Mitverantwortung für die Zukunft sich vernehmbar zu Wort melden.“ Die Tagung wird konsequent mit dialogische Perspektiven von Akteur:innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Politik und Kirche auf die Fragen der gesellschaftlichen Transformationenprozesse geplant.
Sie wollen Kirche ermutigen, genau hinzuhören. Können Sie ein Beispiel erzählen, wo sich übers genaue Hinhören neue Perspektiven ergeben?
Ein Beispiel ist meine Arbeit im Braunkohlenausschuss des Landes Brandenburg, in den ich als Vertreterin der EKBO berufen und in den Vorstand gewählt wurde. Hier kommen sehr unterschiedliche Interessen zusammen: Umwelt, Energie, Wirtschaft, Kommunen, Zivilgesellschaft. Das Gremium existiert seit 1990 – gegründet, um regionale Konsense zu ermöglichen. Gerade hier zeigt sich, wie zentral genaues Hinhören ist. Es geht um Jobs, Landschaften, Energiewende – aber auch um Verluste, Verletzungen, Heimat. Diese „Ewigkeitsaufgabe“ und alles, was damit zusammenhängt, lässt mich fragen: Wie können wir da bei den Menschen sein?
Es geht um Jobs, Landschaften, Energiewende – aber auch um Verluste, Verletzungen, Heimat.
Was gibt Ihnen Hoffnung für die transformationsgeplagten Landstriche im Osten, von denen man ja in der medialen Debatte eher Problemanzeigen wahrnimmt?
Hoffnung gibt mir, dass auch in diesen oft als düster empfundenen Zeiten, in denen wir die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft erleben, es viele Menschen gibt, die bereit sind, sich einzusetzen für ein respektvolles Miteinander, die sich engagieren. Sie sollten wir suchen und uns mit ihnen verbinden. Ihre Leidenschaft, ihre Geduld, ihre Kreativität könnte auch uns wieder neu anstecken. Vielleicht ist ja genau da Christus am Werk und weniger in unseren Kirchenentwicklungsprozessen und wartet darauf, dass wir ihn dort suchen.
Die Leidenschaft, Geduld, Kreativität der Menschen könnte auch uns wieder neu anstecken.
Hoffnung geben mir die großen Erzählungen von Gottes Gegenwart durch alle Zeiten hindurch, die Geschichten von der Möglichkeit des Lebens inmitten seiner Bedrohungen. Die Geschichten, die auch das organisationale und persönliche Scheitern nicht verschweigen, ja dieses sogar so integrieren, dass es wesentlich für Wege in eine veränderte Zukunft wird. Uns mit unseren Ratlosigkeiten und Unsicherheiten da hineinzustellen, ist eine wichtige geistliche Aufgabe. Eben Gottvertrauen, um den Weg zu beschreiten, von dem wir noch nicht wissen, wo er uns hinführen wird. Ob wir die Größe haben, wie sie die Transformationsforscherin Maja Göpel beschreibt? Wenn der Moment gekommen ist, an dem ein System ausgedient hat, zeugt es von viel Größe, sein Gehen zu unterstützen. Umso schneller entwickeln sich die unerprobten Ansätze in die neue Normalität. (Aus: Wir können auch anders, Aufbruch in die Welt von morgen. Audio Verlag München, 2022, gelesen von Nina West) Ich hoffe es!
Ich bin gewiss: Kirche hat Zukunft – nicht, weil sie sich selbst behauptet, sondern weil sie sich einbringt. Weil sie sich berühren lässt – von den Sorgen, und den Hoffnungen der Menschen. Und weil sie dabei selbst verwandelt wird.
Dorothee Land, Pfarrerin und Geistliche Begleiterin, seit Februar 2024 Leiterin des Zentrums für Dialog und Wandel der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz in Cottbus, zuvor u.a. Gemeindepfarrerin, Landesjugendpfarrerin, Studienleiterin für die Fortbildung zum Einstieg in den Beruf und Gleichstellungsbeauftragte der EKM.
Bild: Andrea Ludwig
Bild: Ideenleine auf der Eröffnung der Schlosskirchenpassage in Cottbus, Foto: Dorothee Land
Interview: Kerstin Menzel