Fünf Jahre später ist George Floyd noch immer im öffentlichen Gedächtnis. Ein Beitrag über Erinnerung als Widerstand von Max Tretter.
Am 25. Mai 2025 jährte sich der Tod von George Floyd zum fünften Mal. Sein Schicksal – getötet durch einen Polizisten, der mehr als neun Minuten auf seinem Hals kniete – hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt seine anhaltende mediale und kulturelle Präsenz: George Floyd ist zu einer prägenden Figur der Gegenwart geworden – sichtbar in Musik, Filmen, dokumentarischen Formaten und urbaner Kunst.
Ein Song
Als zentrale Bezugsperson erscheint George Floyd etwa in The Bigger Picture von Lil Baby – einem Song, der nur wenige Tage nach seiner Ermordung erschien und sich rasch zu einer Hymne der Black Lives Matter-Proteste entwickelte. Der Rapper zeichnet darin die Perspektive eines jungen Schwarzen Mannes in den USA zwischen Wut, Ohnmacht und politischem Erwachen. Er reflektiert Polizeigewalt, gesellschaftliche Erwartungen und seine eigene Rolle als Künstler – und fordert Gerechtigkeit, ohne einfache Antworten zu geben.
Eine BBC-Dokumentation
Auch dokumentarisch wurde Floyds Geschichte aufgearbeitet. Besonders eindrücklich ist die kürzlich erschienene, eineinhalbstündige BBC-Dokumentation Backlash: The Murder of George Floyd. Sie rekonstruiert nicht nur den Tathergang, sondern beleuchtet auch die globalen Reaktionen, die Proteste in verschiedenen Ländern und die tiefen gesellschaftlichen Spannungen in den USA – und lässt dabei Angehörige, Aktivist:innen und auch Polizist:innen zu Wort kommen.
Wandbilder und Graffitis
Nicht zuletzt ist George Floyds Gesicht weltweit auf Wandbildern und Graffitis präsent – von Minneapolis bis Nairobi, von Binsch bis Bethlehem.[1] Viele dieser Bilder entstanden im Zuge oder Nachgang der globalen Proteste und haben sich dauerhaft in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Eines der bekanntesten findet sich auch im Mauerpark in Berlin: ein großflächiges Porträt, gestaltet vom Street-Art-Künstler Eme Freethinker, das von den Worten „I can’t breathe“ sowie den Hashtags #GeorgeFloyd, #ICantBreathe und #SayHisName begleitet wird.
Vom Opfer von Polizeigewalt zur Symbolfigur und Märtyrer?
Seine anhaltende Präsenz in Songs und Filmen, auf Graffitis und Social Media, zeigt, wie sehr George Floyd inzwischen weltweit zur Symbolfigur geworden ist – für strukturellen Rassismus, für Polizeigewalt gegen People of Color und für den Widerstand dagegen.
Parallel dazu kam es bald zu Deutungen, die George Floyd mit einem Märtyrer verglichen – einer Person, die für eine „gute Sache“ gestorben sei. Diese Interpretation fand nicht nur in Online-Debatten Resonanz, sondern auch in ikonografischen Darstellungen – etwa in Wandgemälden, die ihn mit einem Heiligenschein zeigen, wie das vielbeachtete Graffiti in Houston, Texas.
George Floyds Tod nicht als sinnlos erscheinen lassen.
Solche Zuschreibungen – bis hin zur Ikonisierung – sind durchaus nachvollziehbar. Sie spiegeln das Bedürfnis wider, George Floyds Tod nicht als sinnlos erscheinen zu lassen, sondern ihn in vertraute Deutungsmuster einzubetten. Und doch bleiben gerade diese Formen des Gedenkens ambivalent. Denn mit jeder Erhebung zur Symbolfigur droht die konkrete Person hinter der Figur zu verschwinden – seine individuelle Geschichte aus dem Blick zu geraten.
Auch innerhalb der Protestbewegungen kann diese Symbolisierung durchaus Schattenseiten haben. So kann die starke Präsenz von Floyd dazu führen, dass andere Opfer polizeilicher Gewalt – Breonna Taylor, Eric Garner, Tamir Rice, Ta’Kiya Young, Elijah McClain, Antonio Valenzuela und viele andere mehr – aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Und gerade dadurch droht auch der Blick für die strukturellen Zusammenhänge verloren zu gehen: dass es sich eben nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um ein systemisches Problem.
Deutung George Floyds als Märtyrer ist problematisch.
Aus theologischer Perspektive ist zudem die Deutung George Floyds als Märtyrer problematisch. Denn als Märtyrer gilt üblicherweise, wer seinen Tod bewusst auf sich nimmt – als Zeugnis des Glaubens oder im Widerstand gegen Unrecht. George Floyd hingegen hatte keine Wahl, sondern wurde grund- und wehrlos getötet. Die Zuschreibung als Märtyrer wird diesem Tod nicht gerecht – sie verklärt, wo es zu verstören gälte.
Erinnerung als Widerstand: Johann Baptist Metz
Wenn aber die Erinnerung an George Floyd als Symbolfigur oder gar Märtyrer ambivalente Züge trägt – wie lässt sich seiner theologisch gedenken, ohne ihn zu verklären? Ohne ihn zu vereinnahmen? Eine mögliche Spur bietet die Theologie der Erinnerung, wie sie Johann Baptist Metz entwickelt hat.
Johann Baptist Metz entwickelt in Auseinandersetzung mit der Shoah die Kategorie der memoria passionis – eines provozierenden, gefährlichen Gedächtnisses. In seinem gleichnamigen Spätwerk von 2006 beschreibt er sie als ein Gedenken, das jede affirmative Gottesrede unterbrechen müsse. Theologie, so Metz, dürfe nicht vorschnell von Trost, Sinn oder Erlösung sprechen, ohne sich von der Erinnerung an das Leiden unterbrechen zu lassen. Dieses Gedächtnis widerspreche allen geschichtsphilosophischen oder heilsgeschichtlichen Erzählungen, in denen Geschichte als sinnvoll, abgeschlossen oder auf Erlösung hin geordnet erscheint. Es richte sich gegen ein triumphalistisches Christentum ebenso wie gegen die Fortschrittserzählungen moderner Gesellschaften.
an das Unabgegoltene erinnern
Das christliche Gedächtnis sei gefährlich, so Metz – weil es uns an das Unabgegoltene erinnere: an das, was nicht geheilt ist, nicht erlöst ist, nicht aufgearbeitet wurde. Und es erinnert uns – die Lebenden, die Erinnernden – daran, dass Gedenken sich nicht auf eine geschlossene Vergangenheit richte, sondern eine offene Gegenwartsverpflichtung darstelle. Nicht um zu versöhnen, sondern um zu unterbrechen – um „dem Schrei ein Gedächtnis und [der] Zeit eine Frist zu geben.“[2]
Im Anschluss an Metz wird deutlich: Auch die Erinnerung an George Floyd darf nicht vorschnell in symbolische Bedeutungszusammenhänge überführt oder in beruhigende Selbstbilder einer vermeintlich „geläuterten“ Gesellschaft integriert werden – als sei durch das Gedenken bereits etwas verstanden oder aufgearbeitet. Gefragt ist ein Erinnern, das nicht einhegt, sondern stört – als bleibende Zumutung. In diesem Sinn kann das Gedenken an George Floyd ein Akt des Widerstands sein bzw. werden: gegen das Vergessen, gegen die Normalisierung des Unrechts und gegen die Versuchung, sich allzu schnell mit dem Bestehenden zu versöhnen. Nicht um abzuschließen – sondern um offen zu halten, was nicht abgeschlossen werden darf.
George Floyd als Unterbrechung lebendig halten.
Dass George Floyd fünf Jahre nach seinem Tod noch immer präsent ist – in Graffitis, Songs, Filmen oder auf Social Media – ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist Ausdruck einer wachen Zivilgesellschaft, die das Gedenken nicht verdrängt, sondern aktiv weiterträgt!
Gerade daran gilt es anzuknüpfen – und weiterzugehen. Ob in medialen und kulturellen Formen oder theologischen Deutungen: Entscheidend ist, dass George Floyd nicht zur bloßen Symbolfigur gerinnt – zu einer moralischen Kulisse wird. Sein Tod sollte nicht „erklärt“ oder in Sinnzusammenhänge eingehegt, sondern bewusst erinnert werden. Und diese Erinnerung ist, das hat Metz gezeigt, ist nicht als Abschluss, sondern eine bleibende Verpflichtung zu verstehen. Genau darin liegt auch ihre theologische Zumutung: George Floyd nicht nur als Symbolfigur zu konservieren, sondern als Unterbrechung lebendig zu halten – in dem, was wir gestalten, erzählen und auch glauben.
Dr. Max Tretter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht unter anderem an der Schnittstelle von Theologie, Ethik, Technologie, Popkultur und politischem Handeln. In seiner Dissertation befasste er sich aus theologisch-ethischer Perspektive mit Hip-Hop im Kontext der Black Lives Matter-Proteste.
Beitragsbild: Wikimedia Commons
[1] Vgl. https://time.com/6180773/george-floyd-murals/
[2] Metz, Johann Baptist, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg, Basel, Wien: 2006, S. 139.