Kerstin Butge ist Gemeindereferentin. Und zugleich führt sie eine Secondhand Boutique. Hier erzählt sie, warum beides für sie in dieser ‚AndersOrtKirche‘ sehr gut zusammen passt.
Ein spiritueller Ort inmitten von Mode
Wer die Secondhand Boutique, LA VIE EST BELLE in München-Harlaching im Tiffany Style betritt, spürt sofort: Hier geht es um mehr als Mode. Zwischen Designerstücken, edlen Accessoires und feinen Gegenständen entfaltet sich ein Ort, an dem Glaube, Schönheit und Nachhaltigkeit eine leise, aber tiefe Sprache sprechen. Mit meiner Idee, der Secondhand-Boutique LA VIE EST BELLE, wollte ich einen „AndersOrtKirche“ ins Leben rufen, einen Ort, an dem Kirche ihre Mauern verlässt und sich neu in die Welt hineinbegibt. Ich wollte einen Raum schaffen, in dem Menschen sich trauen, Kirche neu zu entdecken, anders zu erleben, und Gott als das zu spüren, was er wirklich ist: nahbar, menschlich und lebendig. Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen von der Institution Kirche enttäuscht sind, möchte ich mit meinem Secondhand, mit meinem Tun und Wirken, zeigen: Gott ist keine Institution. Gott ist jemand, der bei uns, mit uns und um uns sein möchte, ohne zu urteilen, ohne zu verurteilen.
Das Schöne im Menschen sichtbar machen
Hinter dieser besonderen Idee stehe ich, Kerstin Butge, Gemeindereferentin, Religionspädagogin, Gestaltpädagogin, Seelsorgerin, Stil- und Modeberaterin. Mein Herzensprojekt ist ein Experiment im besten Sinne: Schon damals als ausgebildete Einzelhandelskaufrau in einem der renommiertesten Modehäuser Münchens liebte ich es, durch meine Beratungen in Sachen Mode und Stil, das Schöne im Menschen sichtbar zu machen. Und irgendwann wuchs in mir der Wunsch, genau das mit meiner Berufung zu verbinden. Ich wollte Kirche an einem anderen Ort leben. So entstand LA VIE EST BELLE, eine Secondhand Boutique, aber mit Seele. Ein Ort, an dem Mode, Mensch und Glaube zusammenfinden. Ein Ort, an dem Kirche auch außerhalb ihrer Mauern erfahrbar wird, im Alltag und im Leben der Menschen, wo Nöten, Ängsten und Sorgen gesehen und gehört werden.
Berufung und Dienst
Bevor ich die Secondhand Boutique LA VIE EST BELLE gründete, war, und bin, ich im Dienst der Erzdiözese München und Freising tätig. Seit meinem Dienstbeginn im Jahr 2012 und meiner Aussendung als Gemeindereferentin im Jahr 2015 durfte ich viele verschiedene Aufgaben übernehmen. In Kirchengemeinden, Schulen, in der Kinder- und Jugendpastoral, in der Trauer- und Beerdigungspastoral und zuletzt in der Krankenhausseelsorge. Als „Spätberufene“ führe ich all diese Dienste mit Herz, Freude und tiefem Glauben aus. Ich habe gelernt, zuzuhören, Menschen zu begleiten, Trost zu schenken und gleichzeitig meiner eigenen spirituellen Stimme zu folgen. „Der Fromme [Christ] von morgen wird ein Mystiker sein, einer der etwas ‚erfahren‘ hat oder er wird nicht mehr sein.“ (Karl Rahner). Diese Worte haben mich immer wieder tief bewegt. Sie erinnern mich daran, dass Glaube keine Theorie ist, sondern Erfahrung. Und diese Erfahrung wollte ich an einem Ort sichtbar machen, der mitten im Leben steht, einem Ort, an dem Menschen Gott begegnen können, vielleicht ohne es bewusst zu merken. Viele spüren beim Eintreten sofort die besondere Atmosphäre. Manche kommen fröhlich, andere traurig. Und oft erlebe ich, dass sich im Gespräch sich plötzlich etwas löst, ein Lächeln, ein Aufatmen, ein kleiner Moment des Friedens.
Tränen in den Augen
Nicht jeder Besuch endet mit einem Verkauf. Oft ist es das Gespräch, das zählt – ein Lächeln, ein gutes Wort, ein stiller Moment, der Kraft schenkt. Meine LA VIE EST BELLE Secondhand Boutique ist damit nicht nur ein Geschäft, sondern ein Ort der Seelsorge im Alltag – offen für alle, unabhängig von Religion, Herkunft oder Lebenssituation. Einmal kam eine ältere Dame in meinen Laden, schwer an Krücken. Sie sagte: „Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber ich sah das Geschäft und hatte das Gefühl, ich muss zu Ihnen kommen.“ Wir setzten uns und sprachen über ihre Angst vor dem Tod. Sie war 85 Jahre alt und meinte, sie könne an nichts glauben. Ich erzählte ihr von meinem Glauben, dass Gott für mich kein ferner Gedanke ist, sondern ein Freund, der mich durchs Leben begleitet. Da bekam sie Tränen in den Augen. Nach einer Stunde sagte sie: „Jetzt kann ich gehen.“ Ich spürte, dass sie nun gut gehen konnte und nicht nur aus meinem Geschäft und ich fühlte in diesem Moment: Gott war da.
Vom Traum zur Wirklichkeit
Beim Aufbau meiner Secondhand Boutique haben mir viele wunderbare Menschen geholfen: Sr. Barbara von den Armen Schulschwestern am Anger in München, meine ehemaligen Kollegen von Siemens, Freundinnen, Freunde und natürlich meine Familie. Gemeinsam haben wir aus einer Idee einen Ort voller Seele gemacht. Die Einrichtung habe ich Stück für Stück in ganz Deutschland und darüber hinaus, bis nach Holland, zusammengetragen und bin mit meinem kleinen Cabrio, oft mit offenem Dach, manchmal auch bei Wind und Regen, überall hingefahren, um alles persönlich abzuholen. Mir war dabei wichtig, dass alles gebraucht war.
Gelebte Schöpfungsverantwortung
Denn das ist für mich gelebte Schöpfungsverantwortung: Dinge aus vergangenen Zeiten zu bewahren und ihnen einen neuen Platz zu geben. Daher findet man in meinem Geschäft Möbel mit Geschichte. Eine Vitrine aus einem Friseursalon der fünfziger Jahre, eine über hundertjährige funkelnde Bleikristalllampe, alte Schneiderpuppen und Stühle mit Patina. Jedes Stück, so auch die abgegebene Ware erzählt von einem früheren Leben und wird Teil einer neuen Erzählung. Am Tag der Eröffnung segneten die Armen Schulschwestern mein Geschäft und baten in einem Gebet um den Geist Gottes für diesen besonderen Anfang. Menschen, die zum Tag der Eröffnung gekommen waren, spürten einen Moment der tiefen Dankbarkeit und des Friedens.
Mein Weg in die eigene Berufung
Nachdem ich den Ruf Gottes, 2005, neu in meinem Leben gehört hatte, begann für mich ein ganz neuer Weg. Über Theologie im Fernkurs in Würzburg studierte ich, nebenbei, während ich als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern Vollzeit bei Siemens als technische Redakteurin im Mobilfunkbereich tätig war, Theologie, Pastoraltheologie und Religionspädagogik. Eines Tages bewarb ich mich für den Bewerberkreis der Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten in der Erzdiözese München und Freising. Als ich meiner Vorgesetzten erzählte, dass ich alleinerziehend und unverheiratet bin, lächelte sie und sagte: „Sie sind ein Spiegelbild der Gesellschaft.“ Dieser Satz traf mich mitten ins Herz. Ich wusste: Das war Gottes Antwort auf meine Fragen. So begann mein langer Weg der Ausbildung und des Hineinwachsens in meine Berufung. Während meiner homiletischen Prüfung sagte mein Prüfer einmal zu mir: „Sie haben die Gabe der Mystagogie. Sie sprechen die Menschen direkt in ihren Herzen an. Sie sprechen nicht über Gott, sondern mit Gott, der in ihren Predigten anwesend sein darf. Ich weiß um diese Gabe und ich weiß auch, dass nicht jede oder jeder, auch nicht im kirchlichen Raum, damit umgehen kann.
Ich missioniere nicht
Heute nehme ich das nicht mehr persönlich. Ich sehe es als Geschenk und spüre achtsam hinein, wann es an der Zeit ist zu sprechen und wann es gut ist zu schweigen. Diese Haltung prägt auch meine Secondhand Boutique. Ich missioniere nicht. Ich bin einfach da so wie der Mensch mich braucht. Doch wenn mein Geschäft geschlossen ist, wird es für mich zu einem Ort der Stille, fast wie eine Meditation. Ich ordne Kleidung, bügle, nähe, räume auf und gleichzeitig ordne ich meine Gedanken, mein Leben, mein Herz. Ich versuche, zu hören, was Gott von mir will, wohin er mich führt, und wie ich immer mehr zu dem Menschen werden kann, den ER schon längst in mir sieht. Diese geistlichen Momente sind für mich zu einem immerwährenden Gebet geworden. Und ich glaube: Wenn ich in mir Frieden finde, können ihn auch andere spüren. So kann meine Secondhand Boutique ein kleiner, feiner Friedensort für die Welt sein, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, kaum sichtbar und doch fähig, eine große, friedvolle Bewegung in der Welt zu beginnen.
Gemeinschaft, Familie und Zukunft
Ganz besonders berührt mich, dass auch meine Enkelkinder meine LA VIE EST BELLE Secondhand Boutique lieben. Sie kommen oft vorbei, helfen mit, dekorieren Schaufensterpuppen oder beraten mit viel Fantasie. Mein elfjähriger Enkelsohn hilft als Übersetzer, wenn jemand nur Kroatisch spricht, weil er Deutsch und Kroatisch fließend beherrscht. Meine neunjährige Enkeltochter hat ein feines Gespür für Stil und Gestaltung und auch meine beiden jüngeren Enkelkinder, sieben und ein Jahr alt, haben Freude daran, den Raum zu erkunden und einfach da zu sein. Ich sehe, wie sie aufblühen, Verantwortung übernehmen und stolz darauf sind, Teil dieses besonderen Ortes zu sein.
Die LA VIE EST BELLE Secondhand Boutique führe ich aktuell nebenbei, als Herzensprojekt, als Berufung, als Hobby, das mein Glaube und mein Leben durchdringt. Für die Zukunft ist ein Café geplant, wo Menschen zwanglos sich begegnen, Gespräche entstehen und neue Ideen wachsen. Geplant ist auch Schulen mit einzubeziehen: Ich möchte Schülerinnen und Schüler einladen, in der Secondhand Boutique mitzuarbeiten, um den Beruf im Verkauf kennenzulernen, Verantwortung zu übernehmen und gleichzeitig zu erfahren, wie erfüllend es sein kann, mit Menschen zu arbeiten. So können junge Menschen nicht nur in die Welt der Mode hineinschnuppern, sondern vielleicht auch hineinspüren, dass ein Beruf in der Pastoral, in der Kirche, in der Begleitung anderer, etwas Großartiges und Schönes ist.
Auch in schwierigen Zeiten
Ich wünsche mir, dass die LA VIE EST BELLE Secondhand Boutique ein Ort ist, an dem Menschen spüren: Das Leben ist schön, auch in schwierigen Zeiten. Hier ist ein Ort des Friedens, der Liebe und des Angenommen seins. Denn genau das ist meine LA VIE EST BELLE Secondhand Boutique für mich geworden: Eine kleine Filiale Gottes mitten in der Stadt. Ein Raum, in dem Mode, Mensch und Schöpfung sich begegnen, und in dem das Leben, mit all seinen Farben, wieder schön wird. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ (1 Kor 16,14) und „Alles zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen.“ (nach Ignatius von Loyola). Diese beiden Gedanken – und auch das oben genannte Wort von Karl Rahner, begleiten mich seit vielen Jahren als Wegweiser. Sie sind mein Kompass, als Gemeindereferentin, als Seelsorgerin, als Frau und als Mensch mitten im Leben.
Vision AndersOrtKirche
Nachdem ich das Geschäft nun bereits über eineinhalb Jahre führe, möchte ich mein Secondhandkonzept auch meinem Dienstgeber, der Erzdiözese München und Freising, als innovative Idee vorstellen. Meine Hoffnung ist es, dass mein Dienstgeber mein Projekt als einen „AndersOrtKirche“ unterstützt, um so Jesus in unserer Gegenwart nachzufolgen. So meine ich, dass Christsein als Gefährtinnen und Gefährten Jesu neu interpretiert werden kann. Auf den Straßen unserer Zeit, mitten im Leben. Heute.








