„Wir stehen … an einem der Momente, in denen die Veränderungen nicht mehr linear sind, sondern vielmehr epochal; sie stellen Weichenstellungen dar, die die Art des Lebens, der Beziehungen, der Formung und Kommunikation des Denkens, des Verhältnisses zwischen den menschlichen Generationen und dem Verständnis und der Ausübung von Glauben und Wissenschaft schnell verwandeln“, so Papst Franziskus in seiner Weihnachtsansprache an die römische Kurie vom 21.12.2019. Rainer Bucher zur Theologie als kritischem Projekt in einer neuen Epoche.
Nur als kritisches Projekt hat die Theologie Zukunft. Eigentlich galt das schon immer. Denn als Wissenschaft ist die Theologie auf kritische Erkenntnis verpflichtet, sonst wäre sie nicht Wissenschaft im modernen Sinn. Als personales Projekt von Theologinnen und Theologen ist sie auf Freiheit verpflichtet, sonst wäre sie nicht authentisch. Als offener Prozess, der Neues entdecken will, braucht sie Raum für Kreativität. Die Einsicht in die Verpflichtung auf das Erkannte, die Anerkenntnis der relativen personalen Freiheit und die Notwendigkeit kreativer Innovation: Wenn man sein Leben der Wissenschaft verschrieben hat und sich selbst und der Dynamik der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerecht werden will, dann kann man gar nicht anders als kritisch Wissenschaft treiben. Das gilt auch für bekenntnisgebundene Theologie.
Unkritische Theologie, die gerade in kirchlichen Krisenzeiten immer mal wieder favorisiert wird, verstößt gegen diese Prinzipien. Sie muss zum Beispiel permanent unabweisbare Erkenntnisse leugnen. Das war im katholischen Anti-Modernismus so und wirkt leider, etwa in den Diskussionen zu gender-Themen, immer noch nach. Selbst das anti-modernistische „Dispositiv der Dauer“ ist noch nicht wirklich überwunden, solange es alles, was in der Kirche eingeführt werden soll, wie etwa Diakoninnen, schon einmal gegeben haben muss.
Unkritische Theologie verstößt aber auch gegen die existentielle und intellektuelle Freiheit des Theologen und der Theologin, denn sie begrenzt den potentiell immer anarchischen Raum des wissenschaftlichen Prozesses. Dieser stellt ein unübersehbares und letztlich unsteuerbares Geflecht intellektueller Praktiken dar, das zwar immer wieder von unterschiedlichsten Instanzen unter Kontrolle gebracht werden will, auf Dauer aber nie wirklich unter Kontrolle gebracht werden kann. Das teilt sie mit der Kreativität, die, etwa in den Künsten, in jedem autoritären System sofort eingebremst wird, weil ihre verstörende Anarchie die Kräfte der biederen Ordnung verstört – und doch, irgendwann, durch die Ritzen der Machtformationen dringt und das lange, bevor die Schichtungen der Macht sich auflösen.
Wie weiter mit der Theologie?
Wie aber weiter mit der Theologie als kritischem Projekt, heute, in Zeiten, die nicht mehr linear und damit berechenbar sind? Indem Theologie dem nicht ausweicht, was ihr Probleme macht, zuallererst natürlich den diversen innerkirchlichen Blockaden. Intellektuell sind das Themen von gestern, politisch sind sie es leider nicht. Ohne die nachholende Entwicklung in Sachen Gewaltenteilung, Sexualmoral, Klerikalismus und Geschlechtergerechtigkeit wird es keine relevante Zukunft der katholischen Kirche geben und der katholischen Theologie auch nicht. Insofern nämlich die grundlegenden menschenrechtsbasierten Normen der freiheitlichen Demokratie als säkulare Varianten der grundlegenden christlichen Prinzipien gedeutet werden können, zerbricht die kirchliche Glaubwürdigkeit in strukturellen Selbstwidersprüchen, wenn die Kirche menschenrechtlich massiv problematische Identitätsmarker wie die Abwertung von Frauen oder Homosexuellen oder ihren eigenen innerkirchlichen Absolutismus geradezu demonstrativ weiterführt, ja ausstellt. Das würde auf Dauer auch die katholische Theologie zerreißen.
Nun verändern sich Institutionen bekanntlich in der Regel nicht durch Einsicht in ihre Reformbedürftigkeit, sondern erst dann, wenn der Reformstau existenzgefährdende Ausmaße annimmt. Das aber ist offenkundig bei der römisch-katholischen Kirche zumindest in unseren Breiten der Fall. Kritische Theologie liefert dann übrigens etwas höchst Wichtiges: die notwendigen Brückenargumentationen vom Bisherigen zum Zukünftigen. Intellektuell aber noch schwieriger: Theologie darf vor den Herausforderungen ihrer Gegenwart nicht einfach in die Wiederholung des Bisherigen ausweichen. Sie muss sich ins Neue wagen.
Nicht ausweichen I: Wie können Glaubensaussagen heute Sinn und Bedeutung entwickeln?
Nicht ausweichen darf die Theologie der Frage, wie die Glaubensaussagen der Tradition in den heutigen, so ganz anderen Lebenszusammenhängen noch Sinn und Bedeutung entwickeln können und wie umgekehrt der anonyme christliche Gehalt eben dieser spätmodernen Lebenszusammenhänge und ihrer normativen Grundlagen, etwa der Menschenrechte, identifiziert und markiert werden kann. Denn wer das Eigene im Anderen nicht identifizieren kann, kann es überhaupt nicht identifizieren und hat es tendenziell bereits verloren. Und wer das Andere des Eigenen nicht zum Ort zur Darstellung des Eigenen machen kann, verweigert sich der Tradition, weil er die Traditionsbildung vernachlässigt. Dieses „Andere“ aber, theologisch die „Zeichen der Zeit“, entwickelt sich tatsächlich dramatisch.
Nicht ausweichen II: Demokratie und Pluralität
Nicht ausweichen kann die Theologie auch der Frage nach der sachlichen und nicht nur historischen Akzeptanz gesellschaftlicher Demokratisierung und Pluralisierung. Sicher: Es bedeutet etwas, wenn das II. Vatikanische Konzil ad extra die Menschenrechte normativ anerkannte. Aber auch das II. Vatikanum hat das Prinzip der Volkssouveränität nicht wirklich akzeptiert. Die Legitimation einer Verfassungsordnung misst sich bei Johannes Paul II. immer noch an ihrer materialen Übereinstimmung mit dem katholisch verstandenen Sittengesetz, und Benedikt XVI. sah in modernen, dezidiert liberalen Gesellschaften gar primär eine „Diktatur des Relativismus“ am Werk.
Wie würde ein nicht nur taktisch, sondern inhaltlich vollzogener Ausgleich mit der liberalen Demokratie, ihren Freiheitsprinzipien und Menschenrechtsnormen, ihren posttraditionalen Lebensformen und ihren riskanten Existenzweisen aussehen? Und dies in Zeiten, da die freiheitliche, menschenrechtsbasierte Demokratie gerade aus ihrem Inneren heraus durch Angstunternehmer, Niedertracht und brutales kapitalistisches Kalkül gefährdet ist und in den USA in rechtskonservativen Intellektuellenkreisen ein neo-integralistisches Denken Boden gewinnt, das mehr oder weniger unverblümt die Unterordnung der „weltlichen Gewalt“ , also des Staates, unter die „geistliche Gewalt“ fordert, da das weltliche Ziel des Menschen dem geistlichen Ziel nachgeordnet sei.
Nicht ausweichen III: Religionen in globalisierten Mediengesellschaften
Nicht ausweichen kann die Theologie auch der Frage, wie es mit den Religionen in post-traditionalen globalisierten Mediengesellschaften weitergehen könnte. Religionen sind fundamental durch die Medien geprägt, mit und in denen sie arbeiten. Es gab bekanntlich Religion vor der Erfindung der Schrift. Die Schrift veränderte die religiöse Landschaft fundamental, ihre Fähigkeit kommunikativ die Todesgrenze zu überwinden und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden, schuf die heute dominierenden Weltreligionen, von denen sich die monotheistischen ja sogar explizit nach ihrem zentralen Medium nennen und als Buchreligionen begreifen. Aber wir leben eben nicht mehr auf der Gutenberg-Galaxie des geschriebenen und gedruckten Wortes, zumindest nicht mehr nur, sondern in einer radikal neuen elektronischen Medienlandschaft.
Denkt man dies weiter, dann spricht einiges dafür, dass diese grundlegende mediale Konstitutionsveränderung von Religion auch zu grundlegenden materialen Entwicklungen auf dem Feld des Religiösen führen wird – das dann vielleicht gar nicht mehr so heißen wird. Es werden also nicht nur, wie schon gegenwärtig, die alten Buch-Religionen unter neue mediale und kapitalistische Nutzungsmuster geraten. Es spricht vielmehr auch einiges dafür, dass ganz neue Religionsformen und Religionsinhalte entstehen werden, die nicht mehr schriftbasiert sind und logischerweise auch dann Religion ganz anders „produzieren“ wie „organisieren“ wie „konsumieren“ als wir es kennen.
Nicht ausweichen IV: die Revolution der Künstlichen Intelligenz
Nicht ausweichen kann die Theologie der Tatsache, dass der Mensch in Zeiten seiner körperlichen Transformation eingetreten ist. Seine „Verbesserung“ (Enhancement) wird denkbar und machbar. Die Mensch/Maschinen-Schnittstelle neu zu definieren ist kein Privileg mehr von science fiction. Es deutet vieles darauf hin, dass hier – mit Hilfe der Implementierung der Künstlichen Intelligenz – eine der umstürzendsten kulturellen Revolutionen der Menschheitsgeschichte sich abzeichnet. Ganz zu schweigen von der Gefahr, dass uns die KI schlicht über den Kopf wächst. Wer kann wissen, was das für Mensch, Gesellschaft und unsere Wahrnehmung der Welt bedeutet? Und welcher Gott, welche Götter dann in Theorie wie Praktiken auftauchen?
Nicht ausweichen V: der globale Kapitalismus
Nicht ausweichen darf die Theologie den Folgen des Sieges des Kapitalismus. Denn er markiert einerseits einen ungeheuren individuellen wie gesellschaftlichen Freisetzungsprozess und wirtschaftlichen Effektivitätsgewinn. Zugleich errichtete der Kapitalismus ein neues, subtiles Herrschaftsregime bis in das Innerste des Subjekts. Seine Ungerechtigkeits- und Verelendungsfolgen für jene, die auf dem Markt nicht bestehen können oder daran gehindert werden, sind wie allzu bekannt dramatisch, seine ökologischen Effekte gar potentiell apokalyptisch. Wie im Kapitalismus bestehen, ohne ihm zu verfallen? Wie ihn transformieren, dass Gerechtigkeit herrscht, dass die Schöpfung bewahrt wird, dass alle Menschen in Frieden und Sicherheit leben können?
Es war schon immer spannend, Theologie zu treiben
Es war schon immer spannend, Theologie zu treiben. In disruptiven Zeiten, in denen sich eine neue Epoche ankündigt, gilt das umso mehr. Wir hoffen, dass in feinschwarz.net davon etwas zu spüren ist.
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Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Bild: Ludger Verst
Beitragsbild: Rainer Bucher (Vatikanische Museen)