Michel de Certeau SJ (1925-1986) war einer der originellsten Theolog:innen des 20. Jahrhunderts. Feinschwarz.net begeht seinen hundertsten Geburtstag am 17. Mai 2025 mit einer Artikelreihe. Es eröffnet: Margit Eckholt.
Michel de Certeau hat sich selbst als einen „Wanderer“, als einen „Reisenden“, verstanden. Mystik und Mission sind die beiden Momente, die den Spannungsbogen seiner intellektuellen Biographie bilden. Michel Jean Emmanuel de la Barge de Certeau wurde am 17. Mai 1925 in Chambéry (Savoyen) geboren, 1950 tritt er in den Jesuitenorden ein, bereits mit abgeschlossenen Studien in Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaften, die er im Grand Séminaire von Saint-Sulpice in Issy-les-Moulineaux begonnen, dann in Lyon fortgesetzt hat. Seit seiner Zeit in Issy stand er in Kontakt mit Claude Geffré, in Lyon wurde Henri de Lubac sein theologischer „Lehrmeister“. 1956 wurde er zum Priester geweiht. Auch auf Veranlassung seiner Oberen arbeitet Michel de Certeau sich in die frühe Geschichte des Jesuitenordens ein, vor allem in die geistliche und mystische Literatur der ersten und zweiten Generation der Jesuiten. Dabei nimmt er vor allem die in den Blick, die in „neue Welten“ aufgebrochen sind: nicht als „conquistadores“, sondern als solche, die – sei es auf Reisen in ferne und fremde Weltregionen, sei es auf Wegen in von der anderen, „fremden“ Konfession besiedelten Gegenden – von dieser Fremde selbst „erobert“ worden sind – herausgerissen aus alltäglichen und vertrauten Bahnen, hineingerissen in eine neue, andere geistliche – „Gottes-“ – Erfahrung. Aufbruch, das Überschreiten von Grenzen, die Erfahrung der Fremde im unterschiedlichen „Neuland“ – das kennzeichnet die Menschen und Texte der Frühen Neuzeit, denen er sich in äußerst akribischer Weise angenähert hat.
Erst langsam entdeckt
Nach der Edition und Studie zum geistlichen Tagebuch von Pierre Favre (Petrus Faber, 1506-1546), einem der Gefährten von Ignatius, der u.a. in den deutschen Bistümern Speyer, Mainz und Köln wirkte und am Konzil von Trient teilnehmen sollte, hat er sich dem Jesuiten Jean-Joseph de Surin (1600-1665) angenähert, einer der großen, aber auch tragischen Gestalten der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der als Exorzist in einem Frauenkloster in der Nähe von Bordeaux eingesetzt wurde und in der Begleitung der Schwestern und Annäherung an deren geistliche Erfahrungen selbst „aus sich herausgerissen wurde“. Der als „verrückt“ erklärte Surin wird zu einem wichtigen geistigen Weggefährten für Michel de Certeau. Es waren die Menschen am Rande, Ausgegrenzte, Bettlerinnen, Zirkuskünstler, scheinbar „Verrückte“, die es ihm angetan hatten. 1982 erscheint der erste Band seiner Studie „La Fable mystique. XVI et XVII siècle“, bis zu seinem Tod am 9. Januar 1986 arbeitet er am 2. Band – ein Standardwerk vor allem in Geschichts- und Kulturwissenschaften für eine kreative, am französischen Strukturalismus und der psychoanalytischen Schule Jacques Lacan´s geschulte Auseinandersetzung mit der mystischen Literatur (vor allem der romanischen Welt) des 16. und 17. Jahrhunderts. Erst mit der Übersetzung der „Mystischen Fabel“ (2010) wird das Werk langsam in der deutschsprachigen Theologie entdeckt.[1]
Durchbricht die Grenzen eines engen Diskurses
Michel de Certeau ist den Zeitschriften der Jesuiten – „Christus“ und „Études“ – verbunden, er gehört bis zu seinem Tod dem Redaktionskomitee der „Recherches de science religieuse“ an, ist ein enger Freund des großen französischen Theologen Joseph Moingt (1915-2020). Er lehrt am Centre Sêvres und Institut Catholique in Paris, er durchbricht in seinem Arbeiten durch die Rezeption der aktuellen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Methodiken die Grenzen eines engen theologischen Diskurses, die Entwicklungen in Politik, Kunst und Kultur verfolgt er mit großem Interesse, seine sozialphilosophischen Überlegungen zu einer „Kunst des Handelns“ im „öffentlichen Raum“ werden breit rezipiert. Sein Eintritt in den Jesuitenorden war vor allem mit dem Wunsch verbunden, in die Mission nach China gesandt zu werden; dorthin ist er nicht gekommen, aber seit 1966 hat er Reisen nach Südamerika – vor allem nach Brasilien, Chile und Mexiko – unternommen. Die brasilianische „saudade“ ist in sein Denken eingeschrieben, „die Sprache einer ´Nostalgie´ nach jenem anderen Land“ (MF 8), in das die Mystiker und die Reisenden der Frühen Neuzeit einführen. Auch wenn die Annäherung an diese Texte höchst akribisch ist, so ist Michel de Certeaus Interesse nicht allein und zunächst ein historisches oder philologisch-sprachwissenschaftliches. In der spezifischen Gestalt ihrer Texte bezeugen die Mystiker eine „A-topie“, einen „Un-Ort“ (MF 9), „an dem sie das Wesentliche behausen“; die Texte ermöglichen es dem Leser und der Leserin, ein „Verlangen“ zu entdecken „nach dem Aufbruch in das Land unserer Geburt“ (MF 9).
Mystische Erfahrung
Die Auseinandersetzung mit Freud und Lacan leitet diese Suche nach dem „Land unserer Geburt“ an, es ist – in geistlicher Perspektive, orientiert an den Gründungstexten der christlichen Gemeinschaft – die Suche nach dem Freund, dessen Grab leer ist. „´Sie haben ihn fortgebracht´, sagen zahllose mystische Lieder, die mit dem Bericht von seinem Verlust die Geschichte von seinem Wiederkommen beginnen, das sich freilich anderswo und anders vollziehen soll“ (MF 8). Das ist die Erfahrung der Jünger, die Erfahrung von Maria von Magdala, an die Michel de Certeau immer wieder erinnert: „Zum leeren Grab kommt Maria von Magdala, diese namensgebende Gestalt der modernen Mystiker: ‚Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.‘“ Jesu Da-Sein besteht „in dem Paradox“, „dass er einmal ‚hier gewesen ist‘, dass er ‚anderswo weilt‘ und dass er ‚später wiederkommen wird‘. Sein Körper ist durch das Verschwinden strukturiert wie eine Schrift.“ (MF 128) In die Gemeinschaft der Christen und Christinnen ist diese Suche nach dem verschwundenen Körper eingeschrieben; die Kirche muss immer wieder neu fest geronnene institutionelle Formen durchbrechen und sich auf die Suche nach diesem Körper machen. Wie eine „Neuinterpretation des Christentums“ erschien Michel de Certeau die Formulierung Heideggers: „Nicht ohne dich. Nicht ohne“ (MF 7), eine Formulierung, die er mit dem alten christlichen Gebet verknüpft „Lass nicht zu, dass ich mich jemals von dir trenne“ (MF 7). Mystik und Mission haben hier ihren tiefen „Kern“, den Michel de Certeau in seinen akribischen Annäherungen an die „Mystische Fabel“ neu offen zu legen versucht.
Ein Freigeist
Von 1978-1984 hat Michel de Certeau einen Lehrauftrag in San Diego wahrgenommen und konnte in der kreativen intellektuellen Umgebung dieses Ortes seinen strukturalistischen und psychoanalytischen Ansatz sowie die Methoden semiotischer Bibellektüre weiter vertiefen. Nach seiner Rückkehr nach Paris im Jahr 1984 wurde er Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences sociales, 1986 ist er nach kurzer, heftiger Krankheit gestorben, in Arbeit war gerade der zweite, unvollendet gebliebene Band der „Fable mystique“. Beim Requiem in der Jesuitenkirche Saint-Ignace in der Rue de Sêvres hat ihm die Pariser intellektuelle Elite das letzte Geleit gegeben – ein Zeichen für die persönliche und wissenschaftliche Anerkennung dieses unkonventionellen Geistes, der Michel de Certeau gewesen ist. Wie wenige andere seiner Zeit war ihm bewusst, dass der „Körper“ der Kirche, ihre konkrete institutionelle Gestalt, in Auflösung begriffen ist. Wir stehen – heute noch einmal mehr – vor ganz neuen Zeiten, und dieser neue Körper und soziale Raum der Kirche kann nicht gefunden werden, wenn nicht „nuevas palabras“ gesprochen werden, so eine Formulierung von Teresa von Avila, die zu den zentralen Referenzen der „Mystischen Fabel“ gehört. Aber wie schwer diese zu finden sind, auch dies war Michel de Certeau bewusst. Ohne „Konversion“, ohne Bekehrung, ist diese Suche nicht möglich, ohne die Bereitschaft, den alten Körper aufzugeben und die Sprache zu verlieren, wie ein Jean Labadie (1610-1674), auf den er am Ende von Band 1 der „Mystischen Fabel“ schaut, ein „Freigeist“, Jesuit, dann aus dem Orden ausgetreten, eine Zeit Jansenist, nicht lange an den einzelnen Orten seines Wirkens, nach einer Wegstation bei Elisabeth von der Pfalz in Herford stirbt er in Altona, seine „Gemeinschaft der Heiligen“ zerstreut sich – die bekannte Naturforscherin und Reisende Maria Sibylla Merian gehörte zu einer kleinen Gruppe der Labadisten in Westfriesland. Wie nach dem Auflösen und Verschwinden eines „Körper“ ein neuer gefunden werden kann, das ist die Frage, die Michel de Certeau bis zu seinem Tod bewegt hat.
Sehnsucht nach dem Fremden und Fernen
Bekehrung, „conversio“, hängt mit „conversar“ zusammen, mit dem lebendigen „Sprechen“ („fari“), den „palabras“, der Titel des Werkes „La Fable mystique“ ist Programm dieser Suche nach einem neuen „Körper“. Michel de Certeau hat als Historiker mit Texten gearbeitet, mit dem geschriebenen Wort; über die Annäherung an die Mystik versucht er, dem in diesen Texten geborgenen lebendigen Wort, dem „Sprechen“, auf die Spur zu kommen, das „fari“, die „Fabel“ zu entdecken, die sich den Texten eingeschrieben hat. Teresa de Ávila, Juan de la Cruz, Angelus Silesius, Jakob Böhme oder Quirinius Kuhlmann, die in der Geschichte der Mystik bereits einen Namen hatten, haben ihm hier geholfen, aber oft waren es eher Menschen wie Jean-Joseph de Surin, die selbst an der Peripherie standen oder dorthin gedrängt worden sind, die Ungebildeten, Knechte, Mägde, Verrückte, Kinder, die Bettlerin in „India Song“ von Marguerite Duras, die nur von „Resten“ lebte, die „los-gelöst“ (MF 54) ist, die selbst nicht spricht, aber die „sprechen macht“ (MF 54). Und dieses Wort „kommt von weiter her als sein Sprecher (…), es allein darf sich erlauben, ´Gott´ zu nennen“ (MF 59). So ist Michel de Certeau selbst auch zum Reisenden geworden und hat Reiseberichte von Missionaren der Frühen Neuzeit erschlossen. Solche „neuen Worte“ hat der an die Bahia von Rio de Janeiro 1557/58 aufgebrochene Calvinist Jean de Léry bei den Tupinambá vernommen; ohne diese zu verstehen, hat ihn der Klang der Worte fasziniert, sie haben etwas in ihm geweckt, was Michel de Certeau mit der „saudade“ benannt hat, die Sehnsucht nach dem „Fremden“ und „Fernen“: „fari, l´acte de parler qui n´a pas de sujet nommable“[2], das „fari, der Akt des Sprechens, das kein nennbares Subjekt hat“.
Ignatianische Wegmystik
„Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht. Er kann nicht hier stehenbleiben und sich nicht mit diesem da zufriedengeben. Das Verlangen schafft einen Exzess. Es exzediert, tritt über und lässt die Orte hinter sich.“ (MF 487) Papst Franziskus, einer der großen Leser Michel de Certeaus, wird dessen kreative Zugänge zur ignatianischen Wegmystik bewundert haben, und es war vielleicht sogar noch mehr der Blick auf die Menschen am Rande, zu dem Michel de Certeau anleitet, der es ihm angetan hatte, weil diese „noch mit dem Herzen sprachen“ und wie die Bettlerin in „India Song“ „niemals ihr Herz von Gott gewendet“ haben (MF 59).
TEIL 2 der Reihe zum 100. Geburtstag von Michel de Certeau.
[1] Michel de Certeau, La fable mystique (XVIe – XVIIe siècle), Bd. 1, Paris 1987; Bd. 2, Paris 2013; Michel de Certeau, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Berlin 2010.
Vgl. zum Werk von Michel de Certeau: Daniel Bogner, Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau, Mainz 2002; Ingo Bocken (Hg.), Spiritual Spaces. History and Mysticism in Michel De Certeau, Leuven/Paris/Walpole 2013; Christian Bauer/Marco A. Sorace (Hg.), Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2019; Margit Eckholt, Gast eines Anderen werden. Glaubensanalyse mit Michel de Certeau in Zeiten interkultureller und interreligiöser Begegnungen, Ostfildern 2020; Melanie Spranger, „Räume der Sehnsucht“. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur »mystischen Geografie« bei Michel de Certeau, Ostfildern 2023.
[2] Michel de Certeau, Ethnographie. L´oralité, ou l´espace de l´autre: Léry, in: ders., L´écriture de l´histoire, Paris 1975, 245-283, hier: 283.
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