Die Metaphern, mit denen wir von die Kirche sprechen, beeinflussen unsere Vorstellungen davon, was sie ausmacht und wie sie sich verändert: Wie ein Haus, das man umbaut? Wie eine Herde, die man auf eine neue Weide führt? Wie ein Unternehmen, das von einem neuen Management umgesteuert wird? Daniel Kosch ist überzeugt, dass es sich lohnt, der Metapher des Waldes nachzugehen.
Von der Kirche ist oft in Bildern die Rede. Die bekannteste und häufig kritisierte Metapher ist jene von Hirt und Herde. Ein älteres Kirchenlied besingt sie als Haus voll Glorie. Ein neueres spricht vom Schiff, das sich Gemeinde nennt. Vertraut ist auch die paulinische Rede von der Kirche als Leib Christi, bestehend aus vielen verschiedenen Gliedern. Weniger geläufig ist das Bild von der Kirche als Bau mit Christus als Eckstein, den die Bauleute verworfen haben. Häufig sind Familien-Metaphern, beispielsweise enthalten in der Anrede der Gläubigen als Brüder und Schwestern, in der Anrede des Bischofs von Rom als Heiliger Vater oder in der Rede von Mutter Kirche.
Ebenfalls verbreitet ist die Rede von Kirche im Singular: Die Kirche ist …, die Kirche hat …, die Kirche sollte … Damit geht einher, dass die Frage nach der Reform oder der Zukunft der Kirche oft so gestellt wird, als gäbe es darauf «die» Antwort. Lautete diese früher oft, «die Menschen dort abholen, wo sie stehen», «endlich den Zeichen der Zeit Rechnung tragen» oder «das Kirchenmanagement verbessern», wurde unter Papst Franziskus das Stichwort «Synodalität» zur Zauberformel. Dementsprechend freuen sich jene, die Reformen für notwendig halten, dass Papst Leo XIV. das Stichwort schon in seinen ersten Äusserungen aufgegriffen hat.
Auch die Rede von der Synodalität der Kirche hat den Charakter eines Bildes
Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass auch die Rede von einer «synodalen Kirche» metaphorischen Charakter hat, beruht sie doch auf dem Bild des gemeinsamen Weges. Dieses ist sehr offen und kann unterschiedlich interpretiert werden, nicht zuletzt bezüglich der Frage, wer Ziel und Zwischenziele festlegt, das Tempo bestimmt und die Regeln für das Miteinander auf der Strecke oder die Entscheidungsfindung im Fall von Differenzen definiert.
Hinzu kommt, dass Synodalität kein Allheilmittel ist und nicht als Antwort auf alle Fragen taugt. In manchen Belangen braucht es eher mehr Professionalität als mehr Synodalität. Viele Kirchenmitglieder haben kein Interesse am gemeinsamen Beraten und Entscheiden, sind der Kirche aber spirituell oder aufgrund ihrer Ethik dennoch fest verbunden. Auf die Herausforderung, in der digitalen Welt kommunikativ zu bestehen, gibt es zielführendere Antworten als synodale Prozesse. Und die Erwartung, dank Synodalität Reichweitenverluste auszugleichen, gesellschaftliche Relevanz zurückzugewinnen oder den personellen Rückgang aufzuhalten, ist kaum realistisch. Auch als Antwort auf die Kritik, die Kirche antworte auf die Nöte und Ängste der Menschen «nur noch mit verbrauchten Geheimnissen» (J.B. Metz), taugt Synodalität allein nicht. All dies spricht nicht gegen eine synodale Kirchenreform, sondern ist ein Plädoyer für Differenzierung und vielfältige Ansätze in der Kirchenentwicklung.
Solche Überlegungen und Fragen habe ich in den letzten Jahren immer wieder auf Wanderungen und Spaziergänge mitgenommen. Und weil ich oft in Wäldern unterwegs bin, entdeckte ich den Wald als «generative Metapher» für die Kirche. Sie erzeugt nicht nur eine Vorstellung oder ein Bild, sondern trägt auch dazu bei, neue Einsichten zu gewinnen und die Wahrnehmung von Kirche zu verändern.
Unterschiedliche Verhältnisse schon auf engem Raum
Im Wald, insbesondere in Bergwäldern, sind schon auf kleinem Raum sehr unterschiedliche Verhältnisse anzutreffen: Dichte Baumbestände, kahle Stellen, niederes Gebüsch, wo vor ein paar Jahren eine Lawine niedergegangen ist, schöne Blumen, wo Licht und Bodenbeschaffenheit passen, Moos und Flechten, Unterholz, von Schädlingen befallene Bäume, schnell wachsende Büsche und neugepflanzte Bäume, die mit einem Drahtgeflecht vor dem Wildverbiss geschützt werden.
Komplexe Interaktionen
Wälder sind komplexe Systeme, in denen Pflanzen und Tiere, Mikroorganismen und das unsichtbare Geflecht der Myzelien (Pilzfäden) aufeinander einwirken und miteinander kommunizieren, auf vielfältige und in vieler Hinsicht noch genauer zu erforschende Art und Weise. Stirbt ein grosser Baum, entstehen für manche Organismen im abgestorbenen Stamm neue Lebensräume. Und weil mehr Sonnenlicht den Waldboden erreicht, blühen neue Pflanzen auf. Jene, die nur im Schatten gedeihen, sterben ab.
Prägung durch Umwelt-Faktoren und Ereignisse
Topographie und Zusammensetzung des Waldbodens, Klima und Klimawandel, Schneisen, die in den Wald geschlagen werden, neue Nutzungsgewohnheiten von E-Bikern, aber auch starker Schneefall im Frühling, eine Trockenperiode, ein Blitzeinschlag haben Einfluss auf die Gestalt und das Leben des Waldes oder einzelner Bäume. Betroffen ist manchmal nur ein beschränktes Gebiet, das von einem schweren Sturm komplett verwüstet wird, während wenige Meter entfernt alles bleibt, wie es ist.
Veränderungen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten
Im Wald haben Veränderungen unterschiedliche Geschwindigkeiten: Der Wechsel der Jahreszeiten, ja nur schon Wetterumschwünge verändern sein Erscheinungsbild in kurzen Abständen. Gleichzeitig bleibt dieses Erscheinungsbild geprägt von Bäumen, die dort seit Jahrzehnten wachsen und deren charakteristische Gestalt erkennen lässt, dass die Zeit nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen ist. Wer längere Zeit dieselben Bergwanderungen macht, kann zudem feststellen, wie die Baumgrenze dank der Erwärmung langsam aber stetig ansteigt oder wie die Bodenerosion an exponierten Stellen die Vegetation verändert. Manche dieser Veränderungen sind unumkehrbar, bei anderen handelt es sich um Kreisläufe oder ein periodisches Auf-und-Ab.
Unterschiedliche Wahrnehmungen je nach Bedürfnis und Interesse
Je nach Bedürfnis und Interesse wird ein Wald unterschiedlich wahrgenommen und genutzt. Die Vogelkundlerin kehrt mit anderen Eindrücken von der Wanderung heim als die Familie, die im Wald ein Feuer gemacht und Würste gebraten hat. Wer den Wald für die Gewinnung von Holz bewirtschaftet, nimmt ihn anders wahr und nutzt ihn anders als die Botanikerin, die sich an der Vielfalt der Flora freut. Wildhüter beurteilen die Anlage neuer Waldwege anders als Joggerinnen. Und Pfadfinderinnen, die im Wald ein Geländespiel machen, nutzen ihn anders als Menschen, die im Wald die Stille und das Rauschen des Windes in den Wipfeln geniessen. Schutzwälder schliesslich sollen dafür sorgen, dass Lawinen aufgehalten werden und tiefergelegene Dörfer verschont bleiben.
Jeder Vergleich hat Stärken und Schwächen
Wie jeder Vergleich «hinkt» auch dieser, etwa, weil es den Unterschied zwischen dem Wald und jenen, die sich darin aufhalten, in der Kirche so nicht gibt. Und anders als Waldbäume haben Kirchenmitglieder die Freiheit, das kirchliche Leben zu gestalten, zur Kirche auf Distanz zu gehen oder eine andere Rolle zu übernehmen, während ein Baum oder ein Käfer diese Freiheit nicht haben.
Trotzdem finde ich die Metapher produktiv, weil sie mich anregt, Faktoren zu berücksichtigen, die in den geläufigen Bildern von Kirche weniger zum Tragen kommen: Heterogenität und Komplexität, je unterschiedliche Auswirkungen historischer Erfahrungen, Ungleichzeitigkeit von Veränderungen, tiefgreifende Folgen von grossen Eingriffen aber auch von unscheinbaren, kaum sichtbaren Prozessen, die Vielfalt möglicher Betrachtungs- und Beurteilungsperspektiven. Wichtig ist auch die Gleichzeitigkeit und manchmal Gegenläufigkeit von Eigendynamiken, von bewusst gestalteten Interventionen und unplanbaren Ereignissen, welche die Auswirkungen einer absichtsvollen Gesamtsteuerung begrenzen, aber auch beschleunigen können.
Theologische Relevanz?
Dass die Perspektivenvielfalt dieses Vergleichs mehr zum Verständnis von Kirchenentwicklung in einem pluralistischen Kontext beitragen kann als weniger komplexe Metaphern, liegt auf der Hand. Schwieriger ist die Antwort auf die Frage, ob dieses Bild sich (analog jenem von Hirt/Herde oder ein Leib/viele Glieder) auch für eine theologische Deutung eignet. Denn das Wirken Gottes oder die Gegenwart Jesu Christi haben in diesem Bild keinen eigenen festen Platz. Vielmehr legt es nahe, Gottes schöpferisches Wirken und die geistgewirkte Gegenwart des Auferstandenen im «Dazwischen», in den Prozessen und Interaktionen, im Werden, Sein und Vergehen zu entdecken.
Zudem kann die Metapher als Fortschreibung mancher Reich-Gottes-Gleichnisse gelesen werden, in denen das Wachsen, das Potenzial kleinster Samenkörner, die manchmal unnötige und riskante menschliche Einflussnahme, der felsige Boden, die Vögel des Himmels und sogar das Unkraut und der felsige Boden eine wichtige Rolle spielen.
Gestaltung und Reform der Kirche
Im Hinblick auf die Frage nach der Gestaltung und Reform der Kirche sind mir beim gedanklichen Spiel mit der Wald-Metapher vier Dinge bewusst geworden:
1. Die Kirche ist eher als lebendiges System oder lebender Organismus und weniger als über Ziele steuerbare Organisation zu verstehen. In seinem bekannten Werk «Reinventing Organizations» beschreibt Frederic Laloux, wie inspirierend es grundsätzlich ist, die Metapher der «Organisation als Maschine» durch die Metapher der «Organisation als Lebewesen» abzulösen, in dem sich die evolutionäre Kraft des Lebens entfaltet.[1]
2. Die Funktionen und damit auch Sinn von Kirche sind vielfältiger, als dies in theologischen Reflexionen oft in den Blick kommt. Die Wald-Metapher macht darauf aufmerksam, dass die Kirche als Lebensraum für ihre Mitglieder gleichzeitig Raum der Stille, Bildungseinrichtung, emotionale Heimat, Arbeitsplatz, Anstifterin zum Einsatz für eine gerechtere Welt, Lebensschule für junge Menschen, Vermittlerin kultureller Werte, Ort der Hilfe in seelischer oder auch materieller Not und vieles andere sein kann. Entsprechend vielfältig sind die Faktoren, von denen abhängt, wo und wie Kirche lebt, Menschen anspricht und existenzielle Relevanz gewinnt.
3. Was für die Kirche mancherorts überlebenswichtig oder existenzbedrohend sein kann, hat andernorts kaum Auswirkungen, weil die Situation und die Herausforderungen ganz andere sind. Pauschale Situationsanalysen und «Allheilmittel» werden der Vielfalt der Situationen und Entwicklungen nicht gerecht. Zwar hat die Redewendung, dass man «vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht» ihr gutes Recht. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Dass man vor lauter Wald die Bäume und vor lauter Waldsterben das Leben in ökologischen Nischen und «an neuen Orten»[2] nicht mehr wahrnimmt.
4. Selbst wenn man in der allegorischen Auslegung der Wald-Metapher die Rollen eines Oberförsters und zahlreicher Forstleute vorsieht, gibt es keine Instanz, die alle Fäden in der Hand hält und das Ganze steuert. Es ist mit einer Vielzahl von Steuerungsinstanzen und -funktionen zu rechnen. Vieles lässt sich nicht von aussen oder von oben steuern, sondern entsteht, wächst und gedeiht in je unterschiedlichen Lebensräumen, durchläuft aber auch Krisen, verändert sich oder stirbt ab und schafft so vielleicht Voraussetzungen für Neues.
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Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).
[1]Frederic Laloux, Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015; ders., Reinventing Organizations visuell. Ein illustrierter Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2017.
[2]Vgl. das Motto des gleichnamigen Buches von Rainer Bucher, An neuen Orten, Würzburg 2014: «Dennoch empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ‘dem’ Raum» (M. Heidegger).