In Wien findet aktuell (8.-12.7.2025) der diesjährige Kongress der EuARe statt – unter dem Titel: „Religion and Socio-Cultural Transformation: European Perspectives and Beyond.“ Kurt Appel, Begründer und Sprecher des Forschungszentrums „Religion and Transformation“ (RaT) der Universität Wien und Professor für Religionsphilosophie und Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) im Gespräch mit Feinschwarz-Redaktionsmitglied Johann Pock.
Mit „Religion and Transformation“ gibt es an der Universität Wien ein mittlerweile höchst anerkanntes Zentrum für Religionsforschung. Das Journal „JRat“ gehört aktuell laut „SCImage Journal Ranking“ zum Bereich Q1 der qualitätsvollsten Zeitschriften. Kannst du kurz etwas zum Forschungszentrum sagen? Warum hast du es initiiert, was sind die Benefits, was die Herausforderungen, nicht nur sein eigenes Institut, sondern ein fakultätenübergreifendes Forschungszentrum zu führen?
Meine persönliche Überzeugung als Theologe ist, dass es wichtig ist, Theologie im interdisziplinären Kontext zu betreiben. Die Theologie kann auf Grund ihrer Breite wichtige Impulse für die Universität, etwa in den Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch in Recht, Kunst und Philosophie geben und ist ihrerseits auf das „außen“ anderer Wissenschaften und Überzeugungen angewiesen.
Im konkreten Fall war die Gründung von RaT insofern naheliegend, als es an der Universität Wien eine ganz breit angelegte Religionsforschung gibt, für die ein struktureller Austausch wichtig ist. Dazu kommt ein gesellschaftliches Anliegen: Die Religionsforschung soll dazu beitragen, Religion und Gesellschaft in einen Austausch auf wissenschaftlicher Ebene zu bringen und auch den interreligiösen Dialog zu stärken.
Die universitäre und damit kritische Reflexion religiöser Überzeugungen und Traditionen ist notwendig.
Angesichts der globalen Entwicklungen, der vielen Kriege und Krisenherde weltweit sowie der wirtschaftlichen Probleme – welche Bedeutung kommt darin Religionen zu und warum soll sich eine Universität damit beschäftigen?
Eines der Hauptprobleme unserer gegenwärtigen Gesellschaften besteht darin, dass ihr immer mehr eine gemeinsame Vision oder ein einigendes Band abhanden kommt, wie es früher noch durch Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und einer geteilten Kultur vorhanden war – ohne dass man dies glorifizieren muss, denn natürlich führte dies auch leicht zum Ausschluss des „Anderen“. Die Grundvision von RaT besteht darin, einen kleinen Beitrag für die Entwicklung eines gemeinsamen Bandes in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu leisten. Ein solches muss auf der Anerkennung des Anderen und der Bejahung von Pluralität und Menschenwürde gründen und dabei die Religionen mit einbeziehen. Die universitäre und damit kritische Reflexion religiöser Überzeugungen und Traditionen ist dabei notwendig und auf Grund der religiösen Vielfalt wichtiger denn je.
Religionen sind voll von Geschichten, in denen sich die unterschiedlichsten Hoffnungen und Verletzungen des Menschen spiegeln.
An welchen Punkten sind Religionen vielleicht Teil des Problems – und wo siehst du auch das Potential, dass Religionen zu Lösungen in diesen Konflikten beitragen könnten?
Religionen – und zwar alle Religionen – sind genauso wie alle säkularen Überzeugungen ihrem Wesen nach ambivalent, weil sie auch Ausdruck menschlicher Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen sind. In ihnen steckt latent Gewalt, aber es finden sich in den großen religiösen Traditionen auch mannigfaltige Wege, Gewalt und Ängste zu überwinden. Wo fundamentalistisch der Andere im Namen der eigenen Religion abgewertet oder gar verfolgt wird, sind religiöse Überzeugungen natürlich Teil des Problems; oft aber eröffnen sie vielfaltige Ebenen der Zusammenarbeit, der Hoffnung, der Kreativität und einer Sinngebung, die zutiefst kulturprägend ist.
Im heutigen Kontext einer oft geschichtsvergessenen Zeit sehe ich es als speziell wertvoll an, dass Religionen voll von Geschichten sind, in denen sich die unterschiedlichsten Hoffnungen und Verletzungen des Menschen spiegeln. Diese Geschichten sind, wenn sie sorgfältig gelesen und interpretiert werden, oft wichtige Quellen der Weisheit und der Hoffnung auf ein menschliches Miteinander. Damit stellen sie auch eine, aber natürlich nicht die einzige Ressource in einer Gesellschaft dar, die leider oft latent nihilistisch ist und dem Einzelnen Sinn, Hoffnung und Trost verweigert.
Wir sind eine Borderline-Gesellschaft, die traditionelle sehr restriktive Grenzen überwinden konnte, sich dabei aber oft in einer Welt wiederfindet, die keinen Sinn mehr bietet.
Bei der Frage der Transformation geht es ja auch um die inneren Veränderungen, denen Religionen ausgesetzt sind. Im Blick auf das Christentum bzw. konkret auch auf die römisch-katholische Kirche: Worin liegen hier die größten Transformationsprozesse?
Generell liegt ein großer Transformationsprozess unserer Zeit darin, dass viele Grenzen vergangener Epochen, die Identität, aber auch Konflikte hervorgebracht haben, verschwunden sind oder nur mehr künstlich aufrecht erhalten werden können. Wir sind eine Borderline-Gesellschaft, die traditionelle sehr restriktive Grenzen überwinden konnte, sich dabei aber oft in einer Welt wiederfindet, die keinen Sinn mehr bietet, weil sie keine Ausgänge, Alternativen und Widerstände ermöglicht, weil ja sowieso alles gleichgültig ist.
Wohin angesichts dieser Herausforderung die römisch-katholische Kirche geht, ist nicht ganz abzusehen: Einerseits gibt es Strömungen, die sektenähnlich neue massive Grenzen und dabei künstliche, d.h. auf keine wirklich geschichtlichen Erfahrungen beruhende Identitäten aufbauen wollen, die sehr stark über Ausschluss funktionieren. Ein typischer Satz dieser Strömung könnte sein: „Wir sind diejenigen, wo ein Mann noch ein Mann und eine Frau noch eine Frau ist und grenzen uns ab gegen Gender-Ideologie (auch wenn wir nicht genau wissen, was das ist, aber es ist die letzte moralische Überlegenheit, die uns bleibt, gegen diese Ideologie Widerstand zu leisten…), Transpersonen, Homosexuelle, liberale Relativisten etc.“ Auf der anderen Seite gibt es viele Noch-Mitglieder, die nicht auf eine traditionelle kulturelle Hülle verzichten wollen, ohne sich aber dabei mit Glaubensinhalten auseinanderzusetzen, oder solche, die Strukturen der Kirche für Sozial- und Erziehungsarbeit nutzen.
Die Kunst wird sein, dies alles so zusammenzuhalten, dass ein gemeinsames Beten und Feiern möglich bleibt und dass Suchenden aller Art Herberge gegeben wird.
Wirft man einen nüchternen und eher pessimistischen Blick auf die römisch-katholische Kirche der Gegenwart, nicht nur in Österreich, sondern in weiten Teilen Europas und Amerikas, könnte man diagnostizieren, dass sie auf dem Weg einer Exkulturation des Glaubens ist. Vor allem auf dem Land werden unzählige Gemeinden von schlechten Seelsorgern kaputt gemacht. Allerdings glaube ich, dass selbst in diesem Niedergang innerhalb und außerhalb der römisch-katholischen Kirche Gemeinden entstehen, an denen Menschen Gott erfahren können. Es handelt sich dabei oft um Orte und Gemeinden, die offen sind für Kunst, Kultur und Bildung, für soziale und ökologische Inititiativen, die eine generelle Aufnahmebereitschaft ohne Hegemonieanspruch zeigen auch denen gegenüber, die vielleicht nicht gewissen Idealen entsprechen. Vor allem aber sind es Orte, an denen sich Menschen wohl fühlen und an denen gerne gemeinsam gefeiert, gegessen und getrunken wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich denke, dass sich die römisch-katholische Kirche in Richtung kleiner, vielfältiger Gemeinschaften transformiert und viel von ihrer bürokratischen und institutionellen Struktur (die nicht nur schlecht war) zusammenbrechen wird. Die Kunst wird sein, dies alles so zusammenzuhalten, dass ein gemeinsames Beten und Feiern möglich bleibt und dass Suchenden aller Art Herberge gegeben wird, ohne dass die Nachbargemeinde verunglimpft wird.
Über 1000 Wissenschafter:innen aus ganz Europa und darüber hinaus nehmen an der Tagung teil und diskutieren in über 200 Panels aktuelle Entwicklungen der Religionsforschung.
Der Kongress beschäftigt sich ja primär (aber nicht ausschließlich) mit der europäischen Perspektive der soziokulturellen Traditionen und des Beitrags von Religionen dabei. Was sind die „Highlights“ dieser Tagung?
Generell ist es sicher ein Highlight für den Forschungsstandort Wien, dass über 1000 Wissenschafter:innen aus ganz Europa und darüber hinaus an der Tagung teilnehmen und in über 200 Panels aktuelle Entwicklungen der Religionsforschung diskutieren. Besonders zu erwähnen sind dabei natürlich die Keynote-Speakers. Es konnten namhafte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik gewonnen werden, in einer, so glaube ich, guten Mischung aus Personen, die dem Umfeld der Universität Wien entstammen, und Personen, die international Hervorragendes geleistet haben. Konkret handelt es sich bei den Keynote-Vortragenden um Grace Davie, Franz Fischler, Isabella Guanzini, Tariq Moodood, Hans Schelkshorn und Rik Toorfs. Sie vertreten ganz unterschiedliche Disziplinen, haben sich aber alle mit dem Thema der Religion auseinandergesetzt.
Für jene, die in diesen Tagen in Wien weilen: Weitere Highlights sind ein öffentlich zugängliches Konzert (Anmeldung – unbedingt erforderlich! – unter euare2025@univie.ac.at) mit der international sehr bekannten Jazzsängerin Chanda Rule, welches am Freitag, den 11.7. um 20 Uhr im Audi Max der Universität Wien stattfinden wird. Zu diesem Konzert möchte ich auch die Leser:innen von Feinschwarz herzlich einladen. Erwähnenswert ist dabei, dass Mitglieder des RaT-Vorbereitungsteams, nämlich Noemi Call (Vocals), Jakob Deibl (Gitarre) und Nicolaus Schweiger (Percussion) als Pre-Act-Band mitwirken werden. Als letztes Highlight möchte ich schließlich einen Ausflug zum Stift Melk nennen, der den Abschluss der Tagung bildet.
Besucher:innen sollen den Eindruck mitnehmen, wie intensiv auch in der Religionsforschung gesellschaftliche Veränderungen wahrgenommen, reflektiert und kritisch begleitet werden.
Welche Themen, die am Kongress behandelt werden, werden uns in den nächsten Jahren theologisch und kirchlich am meisten beschäftigen?
Die Transformationsprozesse, die unsere Gesellschaft durchlaufen, beschäftigen uns auf vielfältige Weise: die ökologische Krise und die Frage, was der Zusammenbruch von Ökosystemen bedeutet; die Situation einer multireligiösen Gesellschaft und die Frage, ob es gelingt, den jahrhundertealten kalten (und manchmal auch sehr gewalttätigen) Krieg zwischen Christentum und Islam in ein wirkliches Miteinander umzugestalten; den Einfluss der neuen Technologien auf die religiöse Erfahrung; die Transformation der Gottesfrage vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften, aber auch säkularer Tendenzen; eine neue Verhältnisbestimmung der Geschlechter und vieles andere. Ich hoffe auf alle Fälle, dass Besucher:innen der Tagung einen Eindruck mitnehmen, wie intensiv auch in der Religionsforschung gesellschaftliche Veränderungen wahrgenommen, reflektiert und kritisch begleitet werden.
Zum Abschluss noch zwei persönliche Bemerkungen: Ich möchte mich bei dem Team von RaT für die so leidenschaftliche, aber auch professionelle Organisation der Tagung bedanken, bei Noemi, Marleen, Marian, Rudi, Marco, Magdalena, Andreas um nur ein paar zu nennen. Leider ist oft den Universitäten und der Politik gar nicht bewusst, welchen ungeheuren Schatz an kreativen Leuten sie beherbergen. Und dann gilt mein Dank auch an Feinschwarz.net für den leidenschaftlichen Einsatz für eine offene Kirche und für die Möglichkeit des Interviews.
Kurt Appel, Dr. phil., Dr. theol., ist Professor für Theologische Grundlagenforschung und Sprecher des interdisziplinären Forschungszentrums „Religion and Transformation in Contemporary Society“ (RaT) der Universität Wien. Er war Gastprofessor in Bologna (2009), Mailand (2010-2015), Rom (2016), Trient (2017), Denver (2017), Perugia (seit 2021), Chieti-Pescara (2023). Forschungsschwerpunkte sind Religionsphilosophie, Hegel und holistische Ansätze der Weltdeutung, Eschatologie und Geschichtsphilosophie, Philosophie der Bibel, Theologie und Politische Philosophie. Für weitere Informationen und Publikationen siehe: www.kurt-appel.at
Beitragsbild: Universität Wien (Foto: J. Pock)