Laura Brauer verfolgt die religionsproduktiven Verflechtungen von Kunst und Technologie bis in unsere KI-Gegenwart.
Die Anfänge digitaler Kunst in den 1950er- und 1960er-Jahren sind eng mit dem Aufstieg des Computers als Kulturtechnik verknüpft. Rechner, die ursprünglich für militärische, wissenschaftliche und ökonomische Zwecke entwickelt wurden – etwa der Zuse Z3 oder der IBM 7090 – fanden bald auch Eingang in künstlerische Experimente. Informatiker, Mathematiker, Philosoph:innen und Künstler:innen begannen, Algorithmen zu entwickeln, die grafische Muster, Linienkompositionen und Zufallsverfahren in Kunst übersetzten. Unter dem Schlagwort „Computerkunst“ bzw. „generative Kunst“ entfachten diese Arbeiten intensive Debatten über das Verhältnis von menschlicher und maschineller Schöpfungskraft.
Verhältnis von menschlicher und maschineller Schöpfungskraft
Eine theoretische Grundlage der frühen Computerkunst war die Kybernetik, entwickelt ab den 1940er Jahren vom US-amerikanischen Mathematiker und Philosophen Norbert Wiener. Sie beschrieb Steuerung, Kommunikation und Rückkopplung in Maschinen, Organismen und sozialen Prozessen und verstand diese als informationsverarbeitende Systeme. Dieses Denkmodell inspirierte auch Künstler:innen, Kreativität als algorithmischen Prozess zu begreifen, und berührte früh existenzielle und religiöse Fragen: Können Leben, Geist und Gestaltungswille in Technik überführt werden? Wiener thematisierte diese Spannung selbst. In God & Golem, Inc. (1966) reflektiert er die ethischen Implikationen künstlicher Intelligenz. Selbstlernende Maschinen erscheinen ihm als menschliche Annäherung an göttliche Schöpfung – mit allen moralischen Risiken. Der Titel verweist auf die Golem-Legende, in der ein künstliches Wesen durch Sprache, im kybernetischen Zeitalter durch Code, zum Leben erweckt wird. So wird der Computer zum modernen Mythos, in dem sich Fragen nach Schöpfung, Verantwortung und Macht neu stellen.
Kybernetik und kabbalistische Symbole
Bereits 1970 bot das Jüdische Museum in New York mit der Ausstellung Software – Information Technology: Its New Meaning for Art eine wegweisende Plattform, die heute als Schlüsselereignis in der Geschichte von Kunst und Technologie gilt. Dass eine religiöse Institution diesen Schritt wagte, unterstreicht das Interesse der spirituellen Welt am visionären Potenzial der frühen Computerkunst. Unter der Leitung des Museumsdirektors Karl Katz, der bewusst die Schnittstelle zwischen Tradition und Innovation suchte, und kuratiert von Jack Burnham, einem Konzeptkünstler und Theoretiker mit Interesse an Kybernetik und kabbalistischen Symbolsystemen, wurde die Ausstellung zu einem kulturellen Ereignis von spiritueller Tiefenschärfe. Das Museum trat dabei nicht nur als Präsentationsort, sondern als Vermittler zwischen Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Innovation auf. Gezeigt wurde, dass digitale Medien nicht bloß Werkzeuge, sondern auch ethische und ästhetische Herausforderungen darstellen.
Ein technologiegetriebenes Religionsverständnis
Doch mischten sich in der Folgedekade auch kritische Stimmen in den Diskurs: So analysierte etwa der Technikphilosoph Carl Mitcham 1986 in Computers: From Ethos and Ethics to Mythos and Religion die sakrale Aufladung des Digitalen. Er sprach von „Computeranbetung“ – einem neuen Technikglauben, in dem Maschinen zu modernen Götzen erhoben werden. In dieser Perspektive bergen Computer nicht nur Chancen, sondern auch die Gefahr, zu irrationalen Hoffnungsträgern zu werden. Ironischerweise, so Mitcham, streben manche Kirchen sogar danach, ihre Gemeinden zu digitalisieren – als Ausdruck moderner Effizienz, aber auch als Indiz eines neuen, technologiegetriebenen Religionsverständnisses.
Kunst und Technik nie strikt voneinander getrennt
Auch im Europa des Kalten Krieges zeigte sich ein gespaltenes Meinungsbild zwischen utopischer Zukunftseuphorie und dystopischem Abgesang auf menschliche Handlungsfähigkeit und Demut. Ein Vertreter mit positiver Zukunftsvision war der österreichische Computerkunst-Pionier und Sci-Fi-Autor Herbert Franke. Er untersuchte diese Doppelrolle des Menschen als rationalem und spirituellem Wesen. In Anlehnung an historische Figuren wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer zeigte er, dass Kunst und Technik nie strikt voneinander getrennt waren. Viele Gläubige – so Franke – bewegen sich ohnehin zwischen Glauben und Alltagserfahrung, zwischen irrationaler Überzeugung und rationaler Lebensbewältigung. Gerade Computerkünstler, die die Synthese von Wissenschaft und Spiritualität anstreben, könnten diese Dualität fruchtbar machen. Mit scharfer Kritik wandte sich der Philosoph Günter Kurt Lehmann (Leipzig, DDR) gegen das Fortschrittsnarrativ technischer Bildwelten, das er in seinem Aufsatz Der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die Kunst als ideologisch aufgeladen und ästhetisch entleerend beschrieb.[1] Lehmann diagnostiziert eine Verlagerung religiöser und ästhetischer Faszinationsstrukturen in die technisch-massenmediale Sphäre – eine „Sakralisierung des Spektakels“, wie sie auch die späteren Medientheoretiker Guy Debord oder Jean Baudrillard beschrieben. Der Computer wird in dieser Logik nicht nur Werkzeug, sondern Träger einer neuen Form von Transzendenz – säkular, simuliert, aber wirkmächtig.
Siliziumunendlichkeiten der Computer
Eine ähnliche Denkbewegung vollzieht der deutsche Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit in einem Essay aus dem Jahr 1993, in dem er die Wirkung computergenerierter Bilder auf unsere Wahrnehmung der Welt reflektiert. „[…] durch die Siliziumunendlichkeiten der Computer gelaufen“, so schreibt er, „erscheint die Welt zunehmend dematerialisiert, auf merkwürdige Weise in ihrer Physis vermindert.“ Theweleit entwickelt die provokante These, dass wir die reale Welt – in ihrer zunehmenden Hässlichkeit und Uniformität – zunehmend hinter uns lassen, um uns stattdessen der ästhetischen Veredelung der virtuellen zuzuwenden. Diese Verschiebung ist jedoch mehr als ein rein ästhetischer Prozess: Sie evoziert, in säkularisierter Form, ein Echo auf das lutherische Ringen um „Werkgerechtigkeit“ – die Frage, ob Erlösung und Schönheit durch menschliche Gestaltung in der diesseitigen Welt erreichbar sind.
Kybernetischer Christus und Kirchenfenster in Bitcoin
Die fortschreitende Verschmelzung von Technologie, Kunst und Spiritualität zeigt sich in immer überraschenderen Ausdrucksformen. 1999 schuf der Künstler und Programmierer Scott Draves mit Electric Sheep eine frühe digitale Lebensform: ein Netzwerk aus Menschen und Computern, das mithilfe evolutionärer Algorithmen visuelle „Träume“ erzeugte – ein kollektives Bewusstsein aus Code, Farben und Mathematik. In seiner Blütezeit um die Jahrtausendwende beteiligten sich bis zu 450.000 Menschen an diesem kybernetischen Organismus. Der Name verweist nicht zufällig auf maschinelle Träume (Do Androids Dream of Electric Sheep?, Roman von Philip K. Dick), doch erinnert er auch an ein klassisches biblisches Bild: das der Herde und des Hirten. So erscheinen die Electric Sheep als digitale Schafe – geführt von einem unsichtbaren Algorithmus, aber zugleich getragen vom Willen der beteiligten Menschen. Die Software wird hier zum kybernetischen Pastor, der nicht predigt, sondern generiert – und die „Herde“ folgt, nicht durch Glauben, sondern durch Berechnung, Auswahl und Rechenleistung. In dieser poetischen Verfremdung spiegelt sich eine moderne Allegorie auf Führung, Gemeinschaft und Sinnsuche im digitalen Raum. Der Hirte ist nicht mehr fleischlich und charismatisch, sondern verteilt, anonym, maschinell – und doch folgen ihm Hunderttausende.
Der Hirte und the Electric Sheep
Während Electric Sheep das kollektive Träumen digitaler Schafe inszeniert, entwirft das Werk Church of the Cybernetic Christ eine rad
[1] „Diese Variante einer Ideologisierung der Entkunstung von rechts ist offenbar deshalb so wirksam, weil sie die Video-Bildwelt – vom Werbefernsehen über den Krimi bis zur Gala-Show – zu einem modernen Mythos umdeutet, in welchem eine von Kunst und Religion entliehene Faszination derart potenziert zur Wirkung gelangen soll, daß demgegenüber alle anderen Weltbilder und Wertordnungen, zumal dann, wenn sie auf Erkennen und Verstehen wie auf ein kritisch-selbstbewußtes Verhältnis zur Wirklichkeit abzielen, ganz und gar banal erscheinen.“
___
Beitragsbild: Laura Brauer mit ChatGPT.
Bild im Text: https://openart.ai/discovery/sd-1007263685644914770
Laura Brauer lebt und arbeitet in Berlin. Gegenwärtig studiert sie im Master Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität, ist am Lehrstuhl Religionswissenschaften sowie im Projekt „Applied Humanities“ tätig. Laura Brauer veröffentlicht regelmäßig in Studierendenzeitungen, theologischen Feuilletons, zuletzt bei SPIEGEL Geschichte.


