In der Deutschschweiz geht bald ein «Dualer Studiengang» an den Start. Zielgruppe sind Menschen, die bereits über eine Ausbildung und Berufserfahrung verfügen. Die Besonderheit besteht in der für das schweizerische duale Berufsbildungssystem typischen Verknüpfung von theoretischer Ausbildung und praktischer Tätigkeit in der Seelsorge. Michael Hartlieb stellt das Vorhaben vor.
Seelsorge zwischen Personalnot und Nachwuchsmangel
Der Standardweg in die kirchliche Seelsorge führt seit eh und je über ein akademisches Studium an einer theologischen Fakultät. Diesem Weg korrespondieren bestimmte Vorstellungen, wer Theologiestudierende sein sollten: Idealerweise entscheiden sich junge Menschen für ein Studium und ergreifen nach einem mehrjährigen Studium inklusive kirchlicher Studienbegleitung und Berufseinführung einen kirchlichen Beruf. Auf diesem Weg gibt es zudem verschiedene Qualitätsabstufungen, mit dem edlen Gewächs des sogenannten (und hier mit Absicht nicht gegenderten) „Volltheologen“ mit Masterabschluss als Spitzenerzeugnis, wenn möglich sogar als Priesteramtskandidat …
Personell durchlebt die Kirche einen radikalen Umbruch
Wer heute einen Blick in die theologischen Fakultäten Deutschlands oder der Schweiz wirft, findet von diesem idealisierten Bild nur noch letzte Überreste. Die Kirchenkrise hat sich im Querschnitt zu einer veritablen Krise auch der theologischen Fakultäten entfaltet. Zugleich durchlebt die Kirche personell einen radikalen Umbruch. Die zahlreichen Theolog:innen der Generationen nach dem 2. Vatikanischen Konzil, geprägt vom langjährigen Aufbau einer sich im erneuerten Geist ‚pastoral‘ verstehenden Kirche, sind bereits in den Ruhestand gegangen oder werden dies in den nächsten Jahren tun. Wenige kommen nach.
Im unheilvollen Gespann mit rund um die Nulllinie oszillierenden Priesterweihen steht die Kirche damit im Blick auf ihre Personalsituation vor dem perfekten Sturm – zumindest im Vergleich zum bisherigen Idealbild einer seelsorgerlichen „Vollversorgung“. Nüchtern ist zu konstatieren: Beziehungen im Glauben zu gestalten, Anlässe für Seelsorge zu ermöglichen, Menschen einen sicheren Anlaufpunkt für ihre „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (GS1) zu bieten – das wird immer weniger leicht und nur verbunden mit mehr Aufwand auf allen Seiten zu bekommen sein.
Studium und Ausbildung in seelsorgerischer Praxis Hand in Hand
Wie es unter diesen Auspizien gelingen kann, verantwortbare Seelsorgeentwicklung zu betreiben; wie es gelingen kann, mehr Menschen das Studium der Theologie zu ermöglichen und in ihnen den Berufswunsch «Seelsorger:in»[1] reifen zu lassen – diese Fragen standen am Ausgangspunkt eines mehrjährigen Beratungsprozesses zwischen kirchlichen Akteuren, den deutschsprachigen theologischen Fakultäten in Fribourg und Luzern und der Theologischen Hochschule Chur. Daraus resultierende Empfehlungen wurden im Herbst 2024 der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK) vorgelegt und von dieser angenommen. Das Ergebnis: Eingeführt wird zum Herbst 2026 in den Bistümern der Deutschschweiz – vorerst Basel, Chur und St. Gallen – ein kirchlicher „Dualer Studiengang Seelsorge“, in dem das Studium der Theologie und die Ausbildung in der seelsorgerlichen Praxis Hand in Hand gehen werden.
Dieser kirchliche Studiengang ist nicht allein als Reaktion auf die eingangs geschilderten Entwicklungen zu verstehen. Es ist ihm genauso ein Anliegen, aktuelle Standards der schweizerischen Bildungs- und Ausbildungslandschaft aufzunehmen und sie im Bereich der kirchlichen Berufsbildung zu implementieren.
An welche Zielgruppen wendet sich der Duale Studiengang Seelsorge?
Viele Richtungsentscheidungen bezüglich des Dualen Studiengangs ergeben sich aus den Zielgruppen: Es handelt sich um Erwachsene, die berufsbiografisch und familiär „mitten im Leben“ stehen. Nach einer ersten Phase der beruflichen Entwicklung streben sie eine Neuorientierung an oder wollen ihre bisherige (kirchliche) Berufsqualifikation auf ein höheres Niveau weiterentwickeln.
Zielgruppe: Menschen mit absolvierter Berufsausbildung
Dementsprechend versteht sich der Duale Studiengang nicht als Konkurrenz zu den akademischen Studiengängen, die zu einem Master-Abschluss führen. Er richtet sich an Menschen mit bereits absolvierter Berufsausbildung und nicht an junge Menschen, für die ein Studium eine Form der Erstausbildung wäre.
Zielgruppe 1: Kirchliche Angestellte aus dem Bildungssektor ohne Matura
In vielen Kantonen der Deutschschweiz ist der konfessionell gebundene Religionsunterricht kein Schulfach. Für den katechetischen Unterricht in der Kirchgemeinde sind Katechet:innen zuständig, die zur Qualifikation für dieses Berufsprofil eine formalisierte, mehrjährige und kirchlich – nicht staatlich! – organisierte, modularisierte Ausbildung nach dem Baukastensystem „ForModula“ durchlaufen. Nach dieser Ausbildung enden jedoch für viele die Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen einer kirchlichen Berufsqualifikation. Die meisten der Katechet:innen und kirchlichen Jugendarbeiter:innen können nämlich keine Matura vorweisen, was eine grossse Hürde für den Start eines Theologiestudiums darstellt. Gleiches gilt für die Absolvent:innen des dualen Studiums am Religionspädagogischen Institut (RPI) in Luzern: Auch sie bringen häufig keine Matura mit und können daher nicht ansatzlos ein Theologiestudium aufnehmen.
Zielgruppe 2: Quereinsteiger:innen
Am Beginn eines Arbeitslebens ist ein Theologiestudium in Verbindung mit einem daran anschliessenden Seelsorgeberuf eine manchmal ernsthaft geprüfte, dann aber wieder verworfene Option. Wenn Menschen im Laufe ihrer Berufsbiografie ihre Verbindung zur Kirche wiederentdecken, bleibt ihnen der Weg in die Seelsorge über ein Studium meist aus ganz praktischen Überlegungen verwehrt: Wie den eigenen Lebensunterhalt über viele Jahre Studienzeit sicherstellen? Wie mit der Unsicherheit umgehen, dass am Ende aus dem Traum „Seelsorge“ nichts wird? Für solche Quereinsteiger:innen gibt es zwar Modelle – z. B. Bischöfliche Studienprogramme unter Aufsicht der einzelnen Bistümer –, die aber auf individuelle Einzellösungen setzen und Mobilität in der Deutschschweiz nur bedingt zulassen.
Was beinhaltet der Duale Studiengang Seelsorge?
Auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppen und die kirchlichen Bedarfe nach einer qualitätsvollen Ausbildung von künftigen Seelsorger:innen reagiert der Duale Studiengang mit einem mehrphasigen Konzept.
Mehrstufiges Aufnahmeverfahren
Vor dem eigentlichen Start des Dualen Studiengangs steht eine mehrjährige Vorbereitungsphase, in der die Anwärter:innen noch im alten Beruf verbleiben können. In dieser Phase erwerben sie entweder im Studiengang Theologie (STh) oder am RPI in Luzern theologische Fundamente. In dieser Phase besteht zudem die Möglichkeit, durch Hospitationen an kirchlichen Orten eigene Erwartungen an die Seelsorge mit den kirchlichen Realitäten abzugleichen. Wichtiger noch: In dieser Phase findet ein mehrstufiges und künftig deutschschweizweit vereinheitlichtes Aufnahmeverfahren unter der Regie der bistumseigenen Ausbildungsverantwortlichen statt. In diesem wird die Motivation zum Seelsorgeberuf abgeklärt und reflektiert, werden ein Assessment und eine psychologische Eignungsabklärung durchgeführt. Wurde das Aufnahmeverfahren erfolgreich absolviert und der STh oder das Studium am RPI qualifiziert abgeschlossen, steht den Anwärter:innen nun als „Bistumsstudierenden“ der Weg in die nächste Phase, den eigentlichen „Dualen Studiengang“ offen.
50%-Anstellung als „Seelsorger:in in Ausbildung“
Dieser verbindet eine maximal 50%-Anstellung als „Seelsorger:in in Ausbildung“ mit einem vertieften Studium der Theologie an einer der drei Fakultäten in der Deutschschweiz. Da die erste Phase im STh oder am RPI mit unterschiedlichen Studienzeiten und –intensitäten verbunden ist, ergeben sich daraus Auswirkungen auf die Studienlänge des Dualen Studiengangs: Wer vom STh kommt, muss innerhalb von drei Jahren 90 Credits aus einem zwischen allen Fakultäten abgestimmten Curriculum erwerben, wer vom RPI kommt, innerhalb von zwei Jahren 60 Credits.
Die berufsqualifizierende Ausbildung an kirchlichen Orten – neben der typischen Kirchgemeinde ist auch an die Spezialseelsorge zu denken – wird von dafür spezifisch ausgebildeten Ausbildner:innen geplant und begleitet. Dies stellt sicher, dass die Auszubildenden strukturiert an die unterschiedlichen Facetten des seelsorgerlichen Dienstes herangeführt werden; durch regelmässige Standortgespräche werden Überforderungen verhindert und können die Anforderungen des parallel laufenden Studiums Berücksichtigung finden.
Ist nach zwei oder drei Jahren das duale Studium qualifiziert abgeschlossen, beginnt die ein- bis zweijährige Berufseinführung im jeweiligen Bistum. Der im Dualen Studiengang erworbene Berufsabschluss qualifiziert unabhängig von dieser bistumseigenen Einführung jedoch für eine Tätigkeit in der ganzen Deutschschweiz.
Ein (vorsichtig optimistischer) Ausblick & anstehende weitere Fragen
Der Duale Studiengang wird erst zum Herbst 2026 eingeführt, aber die Zahl der bislang bei der Koordinationsstelle für den Dualen Studiengang und bei den diözesanen Ausbildungsverantwortlichen eingegangen Beratungsanfragen stimmt zuversichtlich. Das Angebot stösst entgegen den Befürchtungen einiger kirchlicher Akteure auf einige Resonanz.
In den nächsten Monaten geht es nun um die Ausarbeitung der zahlreichen Schnittstellen zwischen den kirchlichen Akteuren, den theologischen Fakultäten und den Kirchgemeinden.
Eine Lücke im in der kirchlichen Berufsbildung
Für die Klärung in der näheren Zukunft stellen sich aber bereits einige Fragen, die hauptsächlich rund um das Niveau der seelsorgerlichen Qualifikation kreisen. In der kirchlichen Berufsbildung der Schweiz ist nämlich eine sogenannte „NQR-Lücke“ auszumachen. Im Schweizerischen (Berufs-)Bildungssystem werden die unterschiedlichen Abschlüsse nach dem NQR(=Nationaler Qualifikations-Rahmen)-System klassifiziert. Ein Berufsabschluss mit Fachausweis – z.B. die Katechetin mit Fachausweis nach ForModula – schliesst auf NQR-Stufe 5 ab. Der Duale Studiengang und alle akademischen Abschlüsse befinden sich auf NQR-Stufe 7. Es fehlt somit NQR-Stufe 6. Gibt es aber in der Kirche der Schweiz Platz für ein niveauadäquates Berufsprofil „Seelsorgeassistent:in“? Wie könnte ein solches Berufsprofil aussehen – und wie bliebe an den kirchlichen Arbeitsorten gewährleistet, dass trotz des Personalmangels nicht Tätigkeiten übernommen werden müssen, für die die Menschen gar nicht ausgebildet worden sind?
Das führt über zur letzten grossen Frage, die sich vor allem in der Schweiz mit der Doppelstruktur[2]; von kirchlich-pastoraler Leitung und staatskirchenrechtlichen Behörden als Anstellungsträgern stellt: Wie ist künftig zu gewährleisten, dass die Kirchgemeinden trotz der Personalnot professionell und fachtheologisch hervorragend ausgebildete Seelsorger:innen anstellen und nicht dem häufig zu hörenden Irrglauben unterliegen, „Seelsorge kann doch jeder machen, der mit Menschen gut umgehen kann“? Die Erfahrungen mit dem Dualen Studiengang werden sicher für entsprechende Diskussionen sorgen. Nun aber heisst es erst einmal, den Dualen Studiengang zum Fliegen zu bringen.
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Michael Hartlieb, Dr. theol., Bereichsleiter für Theologie am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut (TBI) in Zürich und Leiter der Koordinationsstelle für den Dualen Studiengang Seelsorge.
[1]Für Leser:innen ausserhalb der Schweiz sei an dieser Stelle eine kurze Erklärung gestattet: Im Sprachgebrauch der Schweiz ist mit „Seelsorger:in“ nicht der in Deutschland übliche engere Fokus auf eine geweihte Person gemeint. Der Beruf „Seelsorge“ wird eher von einem bestimmten Kompetenz- und Qualifikationsprofil her verstanden und umfasst sowohl Priester als auch Theolog:innen ohne Weihe. Im August 2023 wurde von der DOK ein „Qualifikationsprofil Seelsorger:in“ veröffentlicht, das die entsprechenden Fähigkeiten und Kenntnisse beschreibt. Seelsorger:innen werden in der Schweiz auch nicht allein durch ein Bistum eingesetzt: „Die Anstellung als Seelsorger:in setzt im dualen System der katholischen Kirche der Schweiz in der Regel eine kirchliche Beauftragung (Missio canonica) und eine Anstellungsverfügung durch eine staatskirchenrechtliche Institution voraus. Die Anstellung erfolgt auf Vorschlag der jeweiligen Personalabteilung des Bistums durch die zuständige Kirchgemeinde oder kantonale staatskirchenrechtliche Körperschaft.“ (im genannten Dokument, S. 19).
[2]Diese Doppelstruktur von kirchenrechtlicher und staatskirchenrechtlicher Organisation wird ebenfalls oft «duales System» genannt, wobei „dual“ in diesem Fall eine andere Bedeutung hat als im Bildungsbereich.