Unter dem Titel «Herrschaft und Befreiung» hat Josef Estermann eine Bestandesaufnahme über fünfzig Jahre Befreiungstheologie veröffentlicht. Bernhard Lindner stellt das Buch vor.
«Die Wirklichkeit kommt zuerst!» Diese Erkenntnis stellte der verstorbene Papst Jorge Mario Bergoglio immer wieder ins Zentrum seiner lehramtlichen Verkündigung, z.B. in der Enzyklika «Laudato si». Die Wirklichkeit, das Leben, die Praxis kommen vor jeder Analyse, vor jeder Interpretation, vor jeder Idealisierung, vor jeder Ideologie … und ja, auch vor jeder Theologie. All diese Dinge sind ein «zweiter Akt», der immer eine Vereinfachung, eine Komplexitätsverminderung, eine Fokussierung, eine Interpretation der Wirklichkeit darstellt. Jede Landschaft bleibt komplexer als die Landkarte, selbst wenn diese digital und dreidimensional erstellt wird.
Welche Wirklichkeit wird eigentlich wahrgenommen?
Doch welche Wirklichkeit wird eigentlich wahrgenommen? «Der Papst vom anderen Ende der Welt», wie er sich selbst bezeichnete, nahm besonders die Realitäten der Armut, des Ausschlusses, der Unterdrückung, der Ausbeutung wahr und stellte in seiner lehramtlichen Verkündigung, wie auch in seinem Handeln, Menschen in die Mitte, die sonst übersehen werden. Er hörte ihnen aktiv zu und verlieh ihnen Stimme, wie z.B. in der Amazonien-Synode. Diese andere Perspektive auf unsere Welt von der Südhalbkugel her, teilt sein Nachfolger Robert Francis Prevost mit einer 40jährigen Lebenserfahrung im Norden von Peru. Das stimmt hoffnungsvoll.
Wer ist Subjekt dieser Wahrnehmung?
Konkret gilt zu fragen: Wer nimmt an welchem sozialen und geographischen Ort, in welchem Kontext, in welcher Kultur und mit welchen Interessen Wirklichkeit wahr? Wer ist Subjekt dieser Wahrnehmung? Fragen, die mit den Stichworten «Ideologie- und Macht-Kritik» verbunden sind. Zu sagen: «Wirklichkeit kommt zuerst» bedeutet, Reflexion und Erkenntnis vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Genau dies ist das methodische Vorgehen der «Theologie der Befreiung». Damit ist die Befreiungstheologie nicht eine übliche «Genitiv-Theologie» und Befreiung kein blosses Thema. Vielmehr geht es um eine Theologie, die konkret zur Befreiung, zu befreiendem Handeln beitragen möchte. Sie folgt dem methodischen Dreischritt «Sehen-Urteilen-Handeln».
Befreiungstheologie denkt von der Praxis her im «Lichte» der befreienden Botschaft der Bibel hin zu veränderter Praxis. Sie nimmt keine Position «scheinbarer» Neutralität ein, sondern ergreift Partei für die «Opfer» von Machtverhältnissen und für die Befreiung der Menschen und der Schöpfung. Die Theolog:innen der Befreiung sind Menschen, die sich für eine gerechtere, friedlichere, menschlichere Welt einsetzen.
Politisch brisante Verbindung von biblischer Botschaft und konkreter Lebenswelt
Für den Theologen und Philosophen Josef Estermann waren die Südanden von Peru und Bolivien während 17 Jahren sein Lebens-, Arbeits- und Reflexionsraum. Dort lernte er «von der Erfahrung her» zu denken und erzählt, wie Bewohner:innen des Armenviertels Independencia in Cusco in der Karfreitagsprozession ausgehend vom Leiden Jesus die eigenen Nöte zur Sprache brachten: «Diese direkte und politisch brisante Verbindung von biblischer Botschaft und konkreter Lebenswelt glaubender, hoffender und kämpfender Menschen ist ein Grundzug jeglicher Befreiungstheologie. Bevor sie überhaupt Theologie wird, ist sie eine befreiende Glaubenspraxis, wie sie auch von Jesus vorgelebt worden ist.» (S. 15)
Eine lange Reise durch mehr als 50 Jahre Befreiungspraxis
Das von Estermann vorgelegte Buch «Herrschaft und Befreiung», erschienen im Exodus-Verlag, nimmt die Lesenden mit auf eine lange Reise durch mehr als 50 Jahre Befreiungspraxis und ihre theologische Reflexion darüber: die sogenannte Befreiungstheologie. Kenntnisreich und mit vielen präzisen und detaillierten Informationen gibt er in mehreren konzentrischen Kreisen Überblicke über sozioökonomische und politische Konflikte und die in ihren Kontexten entstandenen Befreiungsbewegungen und Befreiungstheologien. Ein komplexes, höchst anspruchsvolles Unterfangen angesichts der Diversität von Wirklichkeiten auf unserer Erde und der Dekonstruktion von Erklärungsmustern und Denksystemen in den letzten Jahrzehnten.
Gottes Wille ist die Befreiung der Menschen von lebensbedrohender Armut
In historischer Perspektive kommen die Anfänge der Befreiungstheologie in Lateinamerika und ihre vom II. Vatikanischen Konzils inspirierte Veränderung konkreter pastoraler Praxis in den Blick: Teile der lateinamerikanischen Kirche vollziehen einen sozialen Ortswechsel, solidarisieren sich mit der grossen Bevölkerungsmehrheit, den Armen, und suchen mit ihnen Wege aus der lebensbedrohenden Armut. Eine Kirche, die sich als «Volk Gottes» versteht, fokussiert auf reale Leiden und Ausbeutung des Volkes und trifft in den Kontinentalen Bischofs-Konferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) eine «Option für und mit den Armen».
Damit sagen die lateinamerikanischen Bischöfe: Gottes Wille ist die Befreiung der Menschen von lebensbedrohender Armut und von deren konkreten Ursachen, den sozialen Verwerfungen. Armut tötet, vor der Zeit. Diese Situation ist theologisch gesprochen «Sünde». Armut entsteht aber nicht nur durch individuelles ethisches Fehlverhalten, wie etwa «Lieblosigkeit» oder «Egoismus». Nein, sie hat systemische Ursachen. Damit kommen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung als «strukturelle Sünde» in den Blick. Die Dependenztheorie (S. 19) weitet zudem den Analyse-Horizont auf die ausbeuterische Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus, die bis heute nachwirkt.
Brutaler Widerstand der Mächtigen
Grosse Teile der lateinamerikanischen Kirche beschreiten in den 60er bis 80er Jahren des 20. Jahrhundert als «Kirche der Armen» sehr wirksame Wege der Befreiung» und lösen dabei den brutalen Widerstand der Mächtigen aus. Machtkritik und Befreiungsversuche sind gefährlich: «Keine andere Theologie hat so viele MärtyrerInnen zu verzeichnen wie die Befreiungstheologie, und kein anderer Kontinent hat einen derart hohen Blutzoll für die Ideale von Befreiung und Gerechtigkeit bezahlt wie Lateinamerika.» (S. 52)
Ausgehend von dieser von ihm als «klassische Befreiungstheologie» bezeichnete Phase skizziert Estermann weitere «Generationen lateinamerikanischer Befreiungstheologie»: eine «feministische Befreiungstheologie» ab den frühen 1980er Jahren (vgl. S. 59-68); die «indigene Befreiungstheologie», die mit dem Quinto Centenario (Fünfhundertjahr-Gedenkfeier) 1992 und der dritten Konferenz des CELAM im gleichen Jahr entscheidende Impulse erhält (vgl. S. 69-80); die «ökospirituelle Befreiungstheologie» ab den 1990er Jahren als Antwort auf die sich abzeichnende Klimakrise, inspiriert besonders durch Leonardo Boff (vgl. S. 81-88).
Neue Subjekte kommen ins Spiel
Schliesslich widmet Estermann auch ein Kapitel der «dekolonialen Befreiungstheologie», «die sich als Weiterführung der postkolonialen Studien und Adaptierung der postkolonialen Theologie ab den 2010er Jahren vor allem in Lateinamerika bemerkbar macht» (vgl. S. 97-108).
In der aufgezeigten Entwicklung der Befreiungstheologie kommen neue Subjekte ins Spiel: Frauen, indigene und afroamerikanische Völker, sexuelle Minderheiten, die «Mutter Erde», nicht-christliche Religionen.
Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat wesentlichen Einfluss auf die Gründung der EATWOT (Ecumenical Association of Third World Theologians) und inspiriert auch «nicht-christliche Befreiungstheologien».
Ein Parforceritt, der nur bedingt tieferes Verstehen ermöglicht
Estermanns Überblick über Befreiungstheologien in Asien, Afrika und anderen «Kontexten des globalen Südens» zeigt einen weltweiten Horizont befreiungstheologischen Denkens. In der gebotenen Kürze des Buches hat dieser Überblick jedoch etwas von einem Parforceritt, der nur bedingt tieferes Verstehen ermöglicht. Die skizzierte Rezeption der Befreiungstheologie in Europa und insbesondere im deutschsprachigen Raum nennt kenntnisreich theologische Akteure und Veröffentlichungen, bleibt jedoch in der Darstellung akademischer Diskurse hängen. Die Bedeutung befreiungstheologischer Impulse für eine verändernde pastorale, kirchliche, soziale, politische Praxis in Europa wird nicht erwähnt.
Herrschaftskritik macht nicht vor der «heiligen Herrschaft» halt.
Wichtig ist, dass Estermann ein eigenes Kapitel zu den innerkirchlichen Veränderungsimpulsen der Befreiungstheologie bietet. Im Zuge der Volk-Gottes-Ekklesiologie des II. Vaticanums entsteht in Lateinamerika eine Kirche, die wesentlich von der Beteiligung der Laien auf Augenhöhe geprägt ist z.B. in den brasilianischen Basisgemeinden oder den Frauenbewegungen. Die Herrschaftskritik der Befreiungstheologie machte innerkirchlich nicht vor der «heiligen Herrschaft» (Hierarchie) halt. Diese ekklesiologischen Impulse bilden auch den Hintergrund der Konflikte der 1980er Jahre zwischen dem damaligen Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger und namhaften Theologen wie Gustavo Gutiérrez, Leonardo Boff oder Jon Sobrino.
Genuine Antwort auf Herausforderungen der Zeit
Grundsätzlich bietet Josef Estermann in einer gut gelungenen Umschau viele Anregungen: Das Buch kann als Ausgangspunkt für eine vertiefte Beschäftigung mit Befreiungstheologie dienen. Gleichzeitig inspiriert es zum Handeln und zu einer aktiven Beteiligung an Befreiungsbewegungen heute im Süden wie im Norden.
Estermann hält fest: «Die Befreiungstheologie trat nicht als eine Modeerscheinung auf, sondern als eine genuine Antwort des christlichen Glaubens auf gewisse Herausforderungen der Zeit. Solange diese Herausforderungen – Armut und soziale Ungleichheit – bestehen bleiben, wird die Befreiungstheologie eine Existenzberechtigung haben, mehr noch: eine Dringlichkeit darstellen, die weder per Dekret noch durch andere theologische Strömungen als inexistent erklärt werden kann.» (S. 50)
Immer wieder neue Verbündete finden
Die Befreiungstheologie ist noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Im Gegenteil. In der augenblicklichen Zunahme autokratischer und menschenverachtender Regierungen bei gleichzeitiger Zunahme von Kontroll- und Unterdrückungsmöglichkeiten durch digitale Systeme wird es umso nötiger sein, dass jüdisch-christliche Theologie ihr machtkritisches Potential entfaltet. Gleichzeitig muss sie sich solidarisch einmischen an der Seite aller, die heute für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eintreten. Es gilt, immer wieder neue Verbündete zu finden in zentralen (Über-)Lebensfragen der Menschheit und unseres Planeten heute. Dabei trägt uns «die befreiende Botschaft: Eine andere Welt ist möglich!» (S. 11)
Josef Estermann, Herrschaft und Befreiung. Fünfzig Jahre Befreiungstheologie – eine Bestandesaufnahme, 191 Seiten, Edition Exodus, Luzern 2025, CHF 22.– / € 22.–, ISBN 978-3-907386-04-0.
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Dr. Bernhard Lindner, Theologe, Pädagoge, Organisations-Berater und Supervisor, arbeitet seit über 20 Jahren als Erwachsenenbildner und Berater in der Fachstelle «Bildung und Propstei» der Römisch-Katholischen Kirche im Kanton Aargau. Thematische Schwerpunkte sind insbesondere Theologie und Bibel, christlich-jüdischer Dialog und Pilgerreisen auf dem Jakobsweg. Sein Denken und Handeln ist von lateinamerikanischer Befreiungstheologie und Befreiungspastoral inspiriert. Seine «Lehrjahre» verbrachte er bei den Campesinas und Campesinos in der Südandenkirche Perus.