Der evangelische Theologie Ulrich Duchrow (geb. 1935) hat mit „Gerechtigkeit, Frieden, (Über)Leben. Erfahrungen, Kämpfe und Visionen in der weltweiten Ökumene“ ein kompaktes Alterswerk vorgelegt. Eine Rezension von Peter Schönhöffer.
Der für viele ökumenische wie interreligiöse Bewegungen und Organisationen elementar wichtige evangelische Theologe Ulrich Duchrow hat ein kompaktes Alterswerk vorgelegt. Der streng komponierte geistige Erkenntnisgang zeichnet motivierend einen kompetenten und konsequenten Lebensweg nach und gewährt einzigartige Einblicke in die weltweit vernetzte Ökumene.

Wer sich durch Jahrzehnte des Theologen- und Aktivisten-Lebens eines unermüdlich angetriebenen und antreibenden „öffentlichen Intellektuellen“ hindurchliest, wird reich belohnt. Wurzelwerk und Baumkronen von unfassbarer Arbeitsamkeit und dadurch erst möglich werdende prophetisch junge Triebe werden hier abgetastet, mit analytischem Blick verbunden und im Gesamtzusammenhang zugänglich gemacht: „Eu-angelion“ im wahrsten Sinne des Wortes, gute Nachricht und gute Überbringung zugleich. Dies bleibt deshalb wichtig, weil immer weniger kirchlich geprägte Strukturen geschweige denn säkulare Szenen noch wissen, dass solche Handlungsebenen, Akteursgeflechte und materialistisch-theologische Durchdringungen unserer Zeitgeschichte existierten bzw. dass sich Kristallisationskerne aus dieser Geschichte weiter bereithalten, neu entflammt zu werden und in neue Kontexte einzufließen.
In jedem Fall erweist sich Ulrich Duchrow als einer, der sein Leben eingesetzt hat mit Haut und Haar.
Regelrecht singulär erscheint, dass hier ein theologisch klar denkender und urteilender Universitäts- und Universalgelehrter (ja, er hat schon etwas von einem „praeceptor germaniae“, wie der argentinische Neutestamentler René Krüger ihn einmal überschwänglich bezeichnet hat) aus seinen theologischen Positionen und gesellschaftlichen Basis-Analysen heraus zugleich zum Vordenker, zentralen Bewegungsakteur, Gründer und dann wiederum Reflektierer und Neubegründer geworden ist. In jedem Fall erweist sich Ulrich Duchrow als einer, der sein Leben eingesetzt hat mit Haut und Haar. Teilweise vergeblich, dann wieder andere mitreißend, ein intellektueller und praktischer Geburtshelfer für Forschungen, Biografien, Bewegungen und Allianzen.
Dabei konnte es nicht ausbleiben, ganz im Sinne der Bergpredigt immer wieder sachlichen, taktischen und auch verleumderischen Widerspruch auf sich zu ziehen. Über manche Weg-strecken ist er von interessierten Seiten als wirtschaftspolitisch sachfremd abgestempelt, dann sogar kampagnenförmig als struktureller Antisemit hingestellt worden. Dann wieder wurde er als kirchlicher „Links-Außen“ ruhigzustellen versucht. Ulrich Duchrow ist durch alles hindurchgegangen und hat sich dabei immer neu den globalen Dimensionen und lokalen Verankerungen sowie der stets wechselnden Gemeinschaft der Kämpfenden gestellt. Was seinen Lebensweg auszeichnet: stets intellektuell weiter gewesen zu sein als seine Kritiker:innen. Dadurch hat er theologische und gesellschaftspolitische Klärung und dezidierteres und informierteres Basis-Engagement in weltkirchlichen Horizonten angestoßen, das zu Höhepunkten so etwas wie universales teilkirchliches Bekennen auf der Höhe der Zeit möglich gemacht hat.
So etwas [wie Duchrow und sein Wirken] wird auf Zukunft hin wohl immer deutlicher vermisst werden
Dieses gesamte Spektrum gezielt zu bedienen und dabei enthusiastisch, qualitätsvoll, bereit für produktive Interventionen und in der nötigen Parteilichkeit zu verbleiben läge zwar in befreiungstheologischen Kontexten nahe, ist aber im deutschen Sprachraum zur praktischen Mangelware geworden. Und – das wird einem bei der Lektüre bewusst –: So etwas wird auf Zukunft hin wohl immer deutlicher vermisst werden. Denn die „Bewegungsunternehmer“ der anderen Seite in Kirche und Gesellschaft lassen derzeit wenig Spielraum und die verbliebenen befreiungs-kirchlichen Akteure im deutschen Sprachraum werden vermutlich daran scheitern, dass sie kein „fühlen mit der Kirche“ mehr entwickeln oder den schmalen Grat zwischen einer nötigen Kirchenbezüglichkeit des Arguments und real existierender Verzweiflung an kirchlichen Verlegenheits- und Ausweichhandlungen nicht halten können.
Kairos Europa – die wichtigste, stabilste und sicherlich fruchtbarste Netzwerkgründung von Ulrich Duchrow
„Für die Bearbeitung der Menschheitsfragen ist es zentral wichtig, dass Menschen vor Ort an den Kämpfen um die globalen Entwicklungen teilnehmen. Die meisten Institutionen sind in das Machtsystem verstrickt. Nur wenn genug Gegenmacht von unten aufgebaut werden kann, besteht die Chance, dass Alternativen zum herrschenden zerstörerischen Zivilisationsmodell noch rechtzeitig entwickelt werden können“ (11). Das erscheint bis heute der anzustrebende Horizont, der auch in Kairos Europa, der wichtigsten, stabilsten und sicherlich fruchtbarsten Netzwerkgründung von Ulrich Duchrow vielfach bearbeitet worden ist- wenn sie auch aktuell im Zukunftsbestand akut gefährdet ist, so wie auch beinahe alles andere, was echte Hoffnung verspricht. Aus weiteren historischen Etappen leuchten Sätze hervor, die weite Zeitbögen aufspannen: „Gott sei Dank gibt es Fridays for future, die Bewegung der Kinder“ (112). Dessen eingedenk erhält man eine Vorahnung davon, woran alles scheitern könnte in den vor uns liegenden Jahrzehnten.
Das zweite und dritte Kapitel erinnern daran, dass wir eine neue Dichte von hilfreichen Institutionen brauchen werden; etwa so wie die in den 1970er Jahren von Vatikan und Weltkirchenrat zusammen gegründete Organisation SODEPAX. Die verbliebenen Reste konfessioneller Weltbünde und globaler kirchlicher Vertretungen sind so aufzustellen, dass sie die Zeichen der Zeit verstehen und sie mit dem Licht des Evangeliums, interdisziplinärer Wissenschaft und interkultureller Hermeneutik durchdringen und ausdeuten können. Mit Priorität gilt es eine neue Friedensbewegung aufzubauen, den inzwischen fröhliche Urstände feiernden Militarismus die Rechtfertigungsbasis zu bestreiten und real zurückzudrängen (47, 88). Gestalt und Identität der Kirche sind daran auszurichten, prophetische Theologien als Schnellboote für die großen Kirchentanker ins Leben zu rufen und bestmöglich zu hüten, zu fördern, zu verbreiten und/oder persönlich zu inspirieren (47-53, 78, 84).
Besonders prägend ist es auf lange Sicht gesehen gewesen, auf genuin theologische Weise „Jesus und das Imperium“ zu thematisieren.
Dann sollten, angeregt durch den zärtlich-aufbauenden Widerstand eines historischen Glücksfalles wie Papst Franziskus (157f.), vom Geist Gottes bewegte Aufbruchsprophet:Innen, erneuernde soziale und kulturelle Bewegungen sowie „Bewegungen inter-religiöser Solidarität“ (142) entstehen können, die rezeptions-, widerstands- und tradierungsfähig werden – ob wie das für viele sichtbare Flaggschiff „Kairos Europa“ oder diejenigen, die die Zachäus-Kampagne der internationalen Ökumene mittragen oder die „Reformation inter-kulturell und theologiegeschichtlich zu radikalisieren angetreten sind“. Besonders prägend ist es auf lange Sicht gesehen gewesen, auf genuin theologische Weise „Jesus und das Imperium“ zu thematisieren, die Rechtfertigungslehre vom Kopf auf die Füße zu stellen und – Themenschwerpunkt der letzten Schaffensjahre im Universum Duchrow – die interreligiöse Solidarität für Gerechtigkeit in Palästina/Israel über alle ehrabschneidenden und rufschädigenden Widerstände hinweg intellektuell aufzubauen und ihr zu praktischen Wegen in der Zivilgesellschaft zu verhelfen (159-224).
Dass wir unser Leben hingeben müssen, um noch etwas ausrichten zu können, wird jetzt und auf Zukunft hin vermutlich um ein Vielfaches wahrer werden als uns lieb sein mag. In dieser Gefahrenlage wird indes auch der Anschluss an jene „kaum Lebbarkeit des Evangeliums“ besser zu finden sein. Dies vermochte Ulrich Duchrows Lebensweg an der Seite der materiell und seelisch Armen und Kleingemachten risikobereiter, vielfältiger und bedeutungsvoller auszuprägen als andere. Wenn wir dem folgen wollen, liegt es an uns, aus und mit diesem bestärkenden und weiter zu entfaltenden Erbe ein Zusammenspiel mit der „teuren Gnade“ und untereinander wiederzuentfachen, das auch in Zukunft noch fruchtbar wird. Unsere Hilfe sei im Namen des Herrn.
Buchdaten: Ulrich Duchrow, Gerechtigkeit, Frieden, (Über)Leben. Erfahrungen, Kämpfe und Visionen in der weltweiten Ökumene, 240 Seiten, VSA-Verlag, Hamburg 2025 (€ 19,80), https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/gerechtigkeit-frieden-ueberleben/
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Peter Schönhöffer ist katholischer Theologe und Soziologe und hat einen Lizenziatsabschluss in Theologie der Spiritualität. Er ist tätig als Lehrer für katholische Religion, Politik & Wirtschaft, Ethik und Medienkunde. Zudem engagiert er sich im Kuratorium der Stiftung Ökumene, als bundesweiter Referent von attac, in der pax christi Kommission Friedenspolitik und im Vorstand von Kairos Europa. (Foto: privat)
Beitragsbild: Der wahre Jakob – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26063946


