Carl Wilhelm Macke wurde am 28.Dezember 1950, dem „Tag unschuldiger Kinder“, in der dem Hl. Josef gewidmeten ‚Kleinen Kirche‘ in Cloppenburg getauft und damit in die Katholische Kirche aufgenommen. An dieses Ereignis kann er sich naturgemäß nicht erinnern, aber wie sehr die vielen Sinneseindrücke der katholischen Kindheit seine gesamte Biographie tief geprägt haben, ist ihm bis heute gegenwärtig.
Dass auch Räume eine besondere Aura haben und sich durch den in ihre Wände eingebeizten Duft unterscheiden können, lernte ich sehr früh. An den Sonntagen, wenn der Pfarrer im Hochamt und in der nachmittäglichen Andacht den Weihrauchschwenker besonders ausgiebig zur Ehre Gottes schwenkte, zogen die Schwaden bis in die Sakristei. Die vom Weihrauch vernebelte Kirche ist nicht aus meinem olfaktorischen Gedächtnis verschwunden. Die Sakristei der Kirche, in der ich viele Stunden meiner Kindheit und frühen Jugend verbrachte, roch immer noch nach ein wenig mehr. Die sakralen Düfte vermengten sich dort mit sehr profanen alltäglichen Gerüchen. Es gab Tage, da glaubte man als Ministrant, in einer Schnapsbude zu kellnern. Immer wenn der alte Mesner seinen Dienst verrichtete, spürte man in der Nase, wie irdisch der katholische Glaube auch sein kann. Sogar schon bei Frühmessen war die Luft leicht gesprenkelt mit dem herben Aroma billigen Fusels.
Andacht und Narzissmus
In Südoldenburg war es bis in die sechziger Jahren selbstverständlich, dass jeder katholische Junge auch Messdiener wurde. In farbenprächtigen Ornaten, mal in Rot, mal in Lila, mal in Schwarz, mal in Grün hatten wir dem Pfarrer während des Gottesdienstes zur Seite zu stehen. Wir mussten mit Klingeln und Glocken die Gemeinde zur Andacht rufen, das Weihrauchfass schwenken, lateinische Gebete murmeln, den Klingelbeutel durch die Reihen der Gläubigen tragen, das Messbuch in einer großen Zeremonie von einer Seite des Altars zur anderen tragen. Wer noch die vor-konziliare Inszenierung eines katholischen Hochamtes erlebt hat, bleibt ein Leben lang empfänglich für alle Arten barocker Sinnlichkeit, auch wenn er längst seine geistigen Orientierungen im rationalen System der Aufklärung gefunden hat.
Zu Weihnachten, zu Ostern und zu Pfingsten dauerte das Hochamt fast zwei Stunden. Der Kirchenchor sang mehr schlecht als recht eine Messe von Mozart, der Altarraum war mit Blumengestecken übersät. Die Messtexte wurden in einer Sprache gesprochen, die außer der Zelebrant keiner verstand. Es war eine fremde, alte, aber doch sehr feierliche Sprache. Mechanisch wie ein altes Uhrwerk leierten wir Messdiener das uns unsäglich lang erscheinende Stufengebet zu Beginn der Messen hinunter. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Erst viele Jahre später und in wachsender Distanz zu den katholischen Ritualen habe ich meine große Liebe zu Gedichten und moderner Lyrik als ein mögliches Echo auf die Gebete meiner Kindheit zu interpretieren versucht.
Großartig waren die Fronleichnams- und Erntedankprozessionen. Unter dem Geläut aller lokalen Kirchen sind wir durch die Stadt gezogen, vorbei an Altären, zu denen schillernde und phantasievoll ornamentierte Blumenteppiche führten. Die golden glitzernde Monstranz wurde von der örtlichen Geistlichkeit mit großer Andacht – vielleicht auch ein wenig selbstdarstellendem Narzissmus – getragen. Ebenso farbenüberquellend und für mich als Kind von blendender Irritation waren auch die Umzüge aus Anlass des alljährlichen „Katholischen Sportfestes“. Die frommen Weitspringerinnen trugen rote Röcke, die gläubigen Kugelstoßer lila Hosen und die marienverehrenden Barrenturnerinnen gelbe Hemden. Besonders züchtig waren die Formationstänze der Katholischen Landjugend, bei denen die Gruppen zu den monotonen Klängen des „Schneewalzers“ nach einer streng eingeübten Choreographie tanzten. Unglaublich, welche Phantasien Jungfrauengruppen in sommerlich-leichten Kleidern bei einem Ministranten freisetzen können. Unter Gewissensqualen wurden sie gebeichtet. Absolution. Drei ‚Vater unser‘, drei ‚Gegrüßet seist du Maria‘.
Verlogenheit und Frömmeleien
Für fast jedes Malheur gab es außerdem einen Heiligen, der in Wechselgesängen um Beistand gebeten wurde. St. Agatha – ora pro nobis. Als Schutz gegen das schmerzvolle Verschlucken einer Fischgräte half der Blasiussegen. Meine Mutter betete zum Hl. Antonius, wenn ich die Eintrittskarte zum Freibad verloren hatte. Im Gebetbuch waren Fürbitten für Maurer, Kaufleute und Krankenschwestern abgedruckt. Man vertraute in allen Lebenslagen auf Gott und die ganze Heiligenschar im Himmel. Es hat entsprechend lange gedauert, bis Versicherungsagenten in die Hand nahmen, wofür Jahrhunderte lang die Heiligen zuständig waren.
Aber nicht nur Farben, Düfte und Glocken grundieren meine Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Da gibt es auch schmerzhaft schrille Töne, deren Echo lange nachhallte. Die Verlogenheiten und Bigotterien der Pfarrer, die devoten Frömmeleien der Lehrer, die christlich bemäntelten Bösartigkeiten von Klosterschwestern, die Einschüchterungen von christdemokratischen Lokalpolitikern. Noch in den sechziger Jahren stand der Pfarrer im langen schwarzen Ornat drohend vor dem lokalen Kino und machte den Besuch eines Films von Ingmar Bergmann zur Gewissensentscheidung zwischen kirchlichem Gehorsam und Neugierde. „Das Schweigen“ war Teufelswerk. 6.Gebot. Punkt. Keine Diskussion. Natürlich kannte der klerikale Provinzinquisitor keinen der Filme, sondern hatte lediglich die regelmäßig vom Katholischen Filmbüro herausgegebenen Zensurblätter gelesen, die er am Informationsbrett im Hinterraum der Kirche befestigte. Als Jugendlicher konnte man aus diesen Filmbesprechungen gemäß der herrschenden kirchlichen Moralkriterien mit etwas Phantasie sehr gut das eigentlich Verbotene herauslesen.
Unter anderem durch solche Aktionen schmolz die Autorität der lokalen Kleriker dahin. Wir entdeckten, dass wir in einer Demokratie leben, in der es Zensur nicht mehr geben sollte. Das weltliche Gesetz einer bürgerlich-freiheitlichen Gesellschaft – die allerdings noch überall Reste des soeben besiegten Faschismus in sich trug – schob sich vor die dogmatischen Moralgesetze einer Kirche, deren Wurzeln sich noch bis an die „Ränder des Mittelalters“ verzweigten, wie es Johann Baptist Metz einmal von seiner eigenen Biographie in der stockkatholischen Oberpfalz gesagt hat.
Mache ich es mir zu leicht mit meinem Spott?
Der Klerus auf dem Lande spürte sehr genau, dass vor allem das Kino das Monopol auf Weltinterpretation unterspülte. Der Bildermacht konnte ihre Wörtermacht immer weniger standhalten. Auch der vornehmlich von jungen Kaplänen betriebene zaghafte Einzug der Multimediawelt in die sakralen Räume über Pop-Musik oder Dia-Projektoren war letztlich nichts weiter als ein hilfloses Rückzugsgefecht. Das Herauslösen au diesen Prägungen war für mich ein schmerzhafter Kampf, aber man lernte dabei auch für das Leben. Mache ich es mir etwas zu leicht mit meinem Spott über diese untergegangene klerikale Welt?
Als Ende der sechziger Jahre zart ein Hauch des reformerischen Windes des II. Vatikanischen Konzils von den großen Städten, den Universitäten in unsere Kleinstadt hineinsäuselte, begannen auch wir Messdiener mit dem großen Aufräumen. Wir wollten den ganzen abgestandenen sakralen Muff abschaffen, wir lehnten uns gegen die Farben im Gottesdienst auf, die Blumen waren uns zuwider, den Weihrauchschwenker hätten wir am liebsten in die Ecke geknallt. Dass unsere kleine neu-gotische Pfarrkirche abgerissen wurde und an einem anderen Ort eine moderne neue Kirche entstand, fanden wir großartig. Heute befindet sich dort, wo einmal die alte Kirche stand ein Bankgebäude von grauenhaft kalt-funktionaler Architektur. Lob der Aufklärung – aber…
Damals hatten wir für diese ganze katholische Ornamentik nur noch Hohn übrig. Es war für uns Zirkus, ein totes Ritual, Klimbim, religiöser Firlefanz. Alles, was aus den Universitäten und Redaktionen der großen aufgeklärten Städte zu uns herüberschwappte, haben wir begierig aufgegriffen. Wir waren süchtig nach Provokationen und Modernität. Für die Eltern und für die Kirchenhierarchie waren die von uns eingerichteten „Wortgottesdienste“ mit Texten von Brecht, Camillo Torres oder Leonardo Boff eine einzige Herausforderung. Mein Gott, was wurde damals geschimpft, geschrien, gezittert. Der Katholizismus als eine Festung der Angst und Macht, als ein Herrschaftsapparat der Einschüchterung – in dieser Zeit spürten wir ihn bis in die feinsten Fasern unseres Seelenlebens hinein.
Widerstand gegen das Gefängnis eines Dogmas
Dass ich aber in den Hoch-Zeiten der dogmatischen Studentenbewegung immer so instinktiv resistent gegen einen Eintritt in die ideologisch an den kommunistischen Parteien der Weimarer Zeit orientierten, mental und habituell zutiefst vom Protestantismus geprägten Kaderzirkeln gewesen bin, könnte diesen frühen Erfahrungen mit der Eiseskälte katholischer Kirchenhierarchien geschuldet sein, die das Individuum in das Gefängnis eines Dogmas einsperren wollten. Und was sollte ich in Organisationen, die nicht einmal das befreiende Ritual der Beichte nach einer lässlichen Sünde mit der Tochter eines ortsbekannten Kapitalisten kannten…?
Wir glaubten, nur mit schrillen Provokationen könnten wir die von uns als hoffnungslos rückständig und konservativ angesehenen Gemeindemitglieder und den Klerus an die Errungenschaften der Aufklärung, der Moderne, des gesellschaftlichen Fortschritts – oder was wir dafür hielten – heranführen. Wir emanzipierten uns von diesem ganzen klerikalen Plunder, von diesen muffig-stickigen Weltbildern, diesen hohlen Bekenntnissen zu Nächstenliebe, dieser angeblich so bibelgemäßen Bespitzelung unserer Freundschaften, unserer ersten Lieben, unserer ersten Küsse in den dunklen Winkeln des Stadtparks. „Mühsam mussten wir entdecken“, um noch einmal Metz zu zitieren, „was andere, was die Gesellschaft, so scheint es, längst entdeckt hatte und seit langem als selbstverständlich praktiziert: Demokratie im politischen Alltag, den Umgang mit einer diffusen Öffentlichkeit, Spielregeln des Konfliktes, auch im familiären Leben. Vieles wirkte fremd und blieb eigentlich immer befremdend.“
Widerspenstiges Erlernen des Alphabets der Moderne
Erst später, vornehmlich in vielen Begegnungen mit einzelnen Menschen und politischen Gruppen aus den romanisch-mediterranen Ländern, lernte ich langsam mit meinen Ungleichzeitigkeiten und katholischen Tiefenprägungen produktiv umzugehen. Gerade in meiner jetzt schon jahrzehntelangen Tätigkeit im Umkreis von zivilgesellschaftlichen Initiativen zum weltweiten Schutz der Menschenrechte sehe ich auch die große Bedeutung von kirchlichen Hilfsprojekten, die sich an Werten des gemeinschaftlichen Zusammenlebens jenseits von Renditeerwartungen und optimaler Selbstverwirklichung orientieren.
Man kann es sich mit der Erinnerung an seine katholische Kindheit und die Ministrantenzeit vielleicht etwas leichter machen, als ich es hier versucht habe. Alles Erinnerte ließe sich zum Beispiel in Anekdoten auflösen oder vor dem Gericht der Aufklärung und Emanzipation der Lächerlichkeit preisgeben. Auch für mich ist die Minstrantenzeit längst im historischen Archiv meiner Biographie katalogisiert. Tempi passati. Aber wenn man nüchtern, weder verklärend noch verdammend auf diese Lebensphase zurückblickt, entdeckt man viele Widersprüchlichkeiten und widerständige Potentiale der Ungleichzeitigkeit, die noch bis weit bis in das spätere Leben hinein spürbar sind. In einer katholischen Kindheit kann sich jenes lebenslange Zögern herausbilden, das einen vor allzu euphorischen Umarmungen jeder Verlockung zurückhält, die sich mit dem Etikett von Modernität und Fortschritt auf den kapitalistischen Märkten anbietet.
Was einem lange Zeit als eine schlechte Kindheitserbschaft erschien, kann man auch sehr viel differenzierter sehen lernen: als ein langsames, oft auch widersprüchliches, zögerndes, oft auch widerspenstiges Erlernen des Alphabets der Moderne. Nur mit ihm kann man sich aus den Gefängnissen irrationaler Bevormundung befreien, aber ob man sich damit nicht in andere Abhängigkeiten begeben hat, ist ein anderes, weites Feld. Lob der Aufklärung – aber…
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Beitragsbild: Klaus Deux , Fronleichnam.